Es ist eine Problematik, die bisher eher im Bereich der klassischen Musik zu finden war, wo ein Dirigent wie Waleri Gergijew oder eine Sängerin wie Anna Netrebko nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine nach ihrer Haltung zum Krieg und zu Wladimir Putin befragt wurden. Doch warum sollten in der Techno-Szene andere moralische Kriterien als in der Klassik gelten?
Nun ist die Russin Nina Kraviz, als DJ und Produzentin schon lange auch im Westen bekannt und gefeiert, in die Kritik geraten. Die aus dem sibirischen Irkutsk stammende Kraviz machte in den Nullerjahren in der Moskauer Rave-Szene von sich Reden, veröffentlichte Platten auf einem Londoner Label und wurde 2017 vom Magazin »Mixmag« als »DJ des Jahres« ausgezeichnet . Vermutlich ist Kraviz also eine der prominentesten Russinnen in der westlichen Popmusik im weitesten Sinne.
Als am 24. Februar der russische Angriff auf die Ukraine begann, postete Kraviz zwei Tage später ein Video , in dem sie das russische Wort für »Frieden!« mit Bleistift auf einen Zettel schrieb und die Nachricht »I'm praying for peace« hinzufügte. Das Video blieb wochenlang die letzte Wortmeldung auf Nina Kraviz' sozialen Medienkanälen, die die Musikerin vorher sehr regelmäßig bespielt hatte.
In der Zwischenzeit baute sich zum einen eine gewisse Enttäuschung darüber auf, dass Nina Kraviz – anders als andere prominente Vertreter des russischen Showgeschäfts wie etwa der Rapper Oxxxymiron oder der Entertainer Maxim Galkin – sich nicht ausdrücklich gegen den Krieg stellte. Zum anderen wurden ältere Äußerungen Kraviz' in sozialen Netzwerken hervorgeholt, die so interpretiert wurden, dass Kraviz eine Unterstützerin Wladimir Putins sei. Da war das Putin-Meme von 2016 mit der Botschaft »Don't underestimate a Russki«. Und da war das Bild von ihr mit einem Putin-Aufsteller im Arm, sowie einem Gewehr, aus dessen Lauf eine Blume herausschaut. Kraviz postete es am 14. April 2014 – knapp einen Monat, nachdem der russische Präsident die Annexion der Krim bejubelt hatte.
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Schon am 3. März, also nur eine Woche nach Kraviz' Friedensvideo, wurde erstmals ein Beitrag auf einer neuen Instagram-Seite mit dem Titel @ninakravizlovesputin gepostet. In den Biografie-Bemerkungen für die Seite heißt es unter anderem »Nina Kraviz is pro-Putin« und dass es die Techno-Community auf sich nehme, »die Schlange, die unter uns ist«, bloßzustellen.
Zu denjenigen, die sich offen kritisch gegen Nina Kraviz geäußert haben, zählt ihre ukrainische Kollegin DJ Nastia, die Kraviz in einem längeren Instagram-Text als »Pro-Putin-Patriotin voller imperialem Bullshit« bezeichnete.
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Der britische DJ Dave Clarke verwies in einem von Kraviz gelöschten Kommentar unter deren »Peace«-Nachricht darauf, dass diese während der Pandemie für Oligarchen aufgelegt habe, die inzwischen von den Sanktionen gegen Russland betroffen seien. Außerdem habe er sie stets als politisch interessiert kennengelernt. Dem »Focus« hatte Kraviz schon 2007 gesagt: »Ich liebe Russland, und ich kann nicht verstehen, warum viele unser Land so schlechtreden.« Die Gesellschaft habe »eine schwere Krankheit durchgemacht, den Kommunismus. Die Genesung braucht Zeit, aber der Heilungsprozess läuft.«
Wie die französische Zeitung »Le Monde« im März erfuhr, hatte damals Kraviz' Bookingagentur in London besorgte Anfragen von Festivalveranstaltern zu zerstreuen gesucht. Demnach fürchteten Künstler wie Kraviz und andere, mit allzu radikalen Worten gegen den Krieg die daheimgebliebene Verwandtschaft zu gefährden.
Kraviz 2021 in Mailand
Foto: Giorgio Perottino / Getty ImagesDoch nachdem im amerikanischen »Time«-Magazin am 13. Mai ein Artikel erschien, in dem der Streit, der die elektronische Musikszene spalte, erstmals in größerer Form über die Fachkreise hinaus dargestellt wurde, verfingen die Beruhigungsnachrichten nicht mehr.
Vor einer Woche entschloss sich die holländische Vertriebsfirma Clone Distribution, die die Musik von Nina Kraviz' Label Trip Recordings verbreitet hatte, die Geschäftsbeziehungen aufzulösen. Sie erläuterten dies in einem längeren Statement, in dem es hieß, Kraviz habe auf Angebote zum persönlichen Gespräch nicht reagiert. Dadurch, dass sie sich nicht auf eine Seite schlage, wolle sie als Künstlerin weitermachen wie bisher. Dies sei natürlich ihr Recht. Aber man sehe ihr Schweigen als »Zeichen der Doppelmoral und des Desinteresses«, die wiederum typisch seien für die »toxische Positivität und toxische Ignoranz« der Szene, an der sich Clone nicht beteiligen wolle.
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In der Folge brach auch Nina Kraviz ihr Schweigen. Auf ihrem Instagram-Account veröffentlichte sie ein längeres Statement, in dem sie beklagte, schreckliche Ereignisse würden mit Alltagsdingen vermischt. Als Person, Musikerin und Künstlerin sei sie sehr bewegt von den Dingen, die in der Welt geschähen: »Es ist abstoßend, wie sich die Beziehungen meines Landes zur Ukraine entwickelt haben«, so Kraviz. Sie sei gegen jede Form der Gewalt und bete für Frieden: »Es schmerzt mich, unschuldige Menschen sterben zu sehen.«
Mit Politik will sie nichts zu tun haben, sie verstehe weder Politik noch die gesellschaftlichen Prozesse, die sie auslöse, heißt es weiter in der Botschaft, die mit einem Zitat des stoischen Philosophen Seneca endet: Der Streit selbst werde erlöschen, wenn eine Seite es verweigert, ihn weiter anzuheizen.
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Mehrere Festivals sagten seither Nina Kraviz' Teilnahme ab. Beim Detroit Movement, für das auch die Ukrainerin Nastia gebucht ist, hieß es, Kraviz sei »nicht in der Lage zu spielen«. Auch bei den Festivals The Crave in den Niederlanden und Obra in Polen wurde Kraviz' Buchung gecancelt. Das deutsche Festival PollerWiesen schrieb über die Absage an Kraviz: »Die Entscheidung wurde von uns getroffen in einem Prozess des offenen Dialogs mit allen beteiligten Parteien«.
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