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In den sieben Austragungen des Eurovision Song Contest (ESC) seit 2015 belegte der deutsche Beitrag sechsmal den letzten oder vorletzten Platz. 2022 wurde Malik Harris mit »Rockstars« im Finale, für das Deutschland als einer der fünf größten Beitragszahler der europäischen Rundfunkunion direkt qualifiziert ist, 25. von 25 Teilnehmern.
Das ist der Rahmen, in dem die ARD – wie seit 1996 unter Federführung des Norddeutschen Rundfunks (NDR) – einen Titel sucht, der Deutschland beim Song Contest am 13. Mai in Liverpool vertreten soll. Die Entscheidung fällt am späten Freitagabend, womöglich zur Geisterstunde: Sendebeginn der Liveshow zum deutschen Vorentscheid im Ersten ist 22.20 Uhr, die folgende Sendung steht für 0.05 Uhr im Programm. Ein »programmplanerisches Experiment« nennt es der Sender.
Wie wird entschieden?
Analog zum Abstimmungsverfahren im ESC-Finale soll auch bei der deutschen Vorauswahl der siegreiche Song zur Hälfte durch das Publikum und zur Hälfte durch eine Jury bestimmt werden.
Die Jury: 50 Prozent der Punkte werden von acht Jurys in acht verschiedenen Ländern vergeben, die jeweils aus fünf Personen des Musik- und Show-Business bestehen, so der NDR. Sie kommen aus der Schweiz, den Niederlanden, Finnland, Spanien, Litauen, der Ukraine, Österreich und Großbritannien. In der Show vergeben die jeweiligen Jury-Sprecherinnen und -Sprecher dieser Länder die Punktzahlen 1, 2, 3, 4, 6, 8, 10 und 12.
Das Publikumsvotum: Die anderen 50 Prozent der Punkte setzen sich zusammen aus Votings während der Show per Anruf und SMS und einem Onlinevoting, das bereits läuft – über die Websites verschiedener ARD-Radiowellen und der NDR-Eurovision-Seite . Diese Abstimmung endet am Freitag um 22 Uhr, also vor der Show. Die Punkte würden »im prozentualen Verhältnis des deutschen Televotings auf die acht Songs verteilt«, heißt es weiter.
Die Show: Die ARD-Sendung zum Vorentscheid wird schon zum siebten Mal seit 2014 von Barbara Schöneberger moderiert. Sie findet in den MMC-Studios in Köln statt. Auf dem Sofa talkt Schöneberger mit Ilse DeLange (2014 ESC-Zweitplazierte für die Niederlande mit den Common Limnets), Florian Silbereisen, Riccardo Simonetti und Malik Harris, dem deutschen Teilnehmer 2022 in Turin.
Wer tritt an?
Acht Acts wurden durch die ESC-Redaktion und ein beratendes Team aus nationalen und internationalen Musik-Expertinnen und Experten ausgewählt. Expertise kam unter anderen von den ARD-Radiowellen, deren Auswahl im Vorjahr scharf kritisiert worden war, weil sie nur verschiedene Schattierungen von Durchhörbarkeit ausgesucht hatten. Ein zusätzlicher Teilnehmer am Vorentscheid wurde erstmals via TikTok gewählt; diese Abstimmung gewann mit klarem Vorsprung Ikke Hüftgold.
Am Tag des Vorentscheids mussten Frida Gold ihre Teilnahme mit »Alle Frauen in mir sind müde« (hier das Musikvideo ) zurückziehen: Sängerin Alina Süggeler ist erkrankt, sie klagte über Fieber, Schüttelfrost, eine angegriffene Stimme und kann nicht auftreten.
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TRONG – »Dare To Be Different«
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Wer? Trong Hieu Nguyen, 30, ist in einer fränkischen Asylbewerberunterkunft aufgewachsen, studierte in Hannover Gesang und nahm bei einem Verwandtenbesuch an einem Casting für die vietnamesische Version von »DSDS« teil. Die Folge: Er wurde zum »Vietnam Idol« und dort als »German Hot Boy« angehimmelt. Schon fünfmal versuchte er vergeblich, am deutschen ESC-Vorentscheid teilzunehmen; jetzt hat es geklappt mit einer Hymne auf den Mut, zu sich selbst zu stehen.
Wie klingt's? Trong Hieu hat als Kind und Jugendlicher immer wieder erfolgreich an Tanzwettbewerben unter dem Motto »Dance 4 Fans« teilgenommen, bei denen es darum ging, die Choreografien berühmter Vorbilder nachzuahmen. In einer TV-Show durfte er sogar einmal Britney Spears vortanzen. Das etwas Epigonenhafte hat seine Musik auch an sich, wobei aktuell vor allem der durchgestylte K-Pop-Sound das Vorbild abgibt, hier als Discostück.
Würde er Letzter in Liverpool? Wahrscheinlich nicht: Sound und Botschaft sind zeitgemäß, Trong ein beeindruckender Tänzer und mit dem traditionellen vietnamesischen Reishut hat er ein gedächtnisstützendes Accessoire für den Schnelldurchlauf. Ein paar Punkte kämen da wohl zusammen.
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René Miller – »Concrete Heart«
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Wer? René Müller, 28, stammt aus dem Schwäbischen, die »Stuttgarter Zeitung« beschrieb ihn als den »Ed Sheeran aus Filderstadt«. Das Studium zu erneuerbaren Energien brach er nach zwei Semestern ab; er arbeitet von Berlin und London aus als Songwriter und gehörte zum Team, das für Zoe Wees deren Durchbruchshit »Control« schrieb. Im April 2022 erschien seine Debütsingle, nun mit anglisiertem Nachnamen.
Wie klingt's? Man merkt, dass Miller sein Handwerk versteht: »Concrete Heart« ist eine konzentrierte, sehr radiotaugliche Ballade, die viele britische Künstler auch singen könnten. Vielleicht weniger die allererste Sheeran-Liga, aber knapp dahinter. Allerdings würden sich die Muttersprachler eventuell daran stören, dass doch arg verbrauchte Sprachbilder verwendet werden (»You just build me up to knock me down«)
Würde er Letzter in Liverpool? Sehr schwer einzuschätzen. Es hinge von der Inszenierung ab. René Miller selbst ist nicht der Typ für die spektakuläre Show, und solide Radiohits gibt es ein paar im ESC, da könnte er untergehen. Die ewig Hoffnungsvollen im NDR würden auf den in den letzten Jahren singulären Erfolg von Michael Schulte verweisen, wo auch nicht viel los war auf der Bühne, aber alles zusammenpasste.
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Anica Russo – »Once Upon A Dream«
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Wer? Der Vorname von Anica Russo wird nach ihrem kroatischen Vater »Ani-za« ausgesprochen; ihre Mutter kommt aus Süditalien. Die 22-Jährige ist in einem Dorf bei Oldenburg aufgewachsen und lebt jetzt in Berlin. Mit einer Duett-Coverversion (mit Jannik Brunke) des Rihanna-Hits »Work« erreichte sie als 16-Jährige in vier Tagen über 150.000 YouTube-Klicks. 2022 gewann sie beim W-Festival in Frankfurt am Main den Nachwuchswettbewerb »Wellen schlagen« und durfte zur Belohnung im Vorprogramm von Zoe Wees auftreten.
Wie klingt's? Die mit finnischer Unterstützung geschriebene Ballade plätschert verträumt vor sich hin, bis bei Minute 1:15 ein Hallo-wach-Break einschlägt. Als sei es von der rauen Wirklichkeit erschrocken, scheint sich das Lied aber danach noch mal wieder hinzulegen.
Würde sie Letzte in Liverpool? Höchstwahrscheinlich. Der eine Clou der Produktion würde im allgemeinen ESC-Finalgetöse untergehen. Vielleicht ein, zwei Sympathiepunkte aus Kroatien oder Italien.
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Lonely Spring – »Misfit«
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Wer? Die Band um die Fuchs-Zwillinge aus dem niederbayerischen Freyung ist schon seit Mitte der Zehnerjahren in den kleinen Klubs des Landes unterwegs. Unterstützung bekamen sie von der Münchner Punkband Emil Bulls; ihre erste EP wurde von einem Musiker von Electric Callboy abgemischt – das war die Band, deren Nichtqualifikation für den Vorentscheid 2022 die Diskussionen über das Primat der Radiotauglichkeit auf die Spitze brachte. Ein verstecktes mea culpa des NDR-Teams?
Wie klingt's? Nach den frühen Nullerjahren, nach Pop-Punk mit mehrstimmigem Gesang, nach Avril Lavigne, »Teenage Dirtbag«, Fall Out Boy. Der Song handelt davon, ein Außenseiter zu sein – und sich nicht groß darum zu scheren. Eine gute Grundhaltung für Lonely Spring bei diesem Wettbewerb.
Würden sie Letzte in Liverpool? Vielleicht nicht Allerletzte. Ein kleines Pop-Punk-Revival hat in jüngerer Zeit auch den Mainstream erreicht. Zudem könnten die bayerischen Jungs mit ihrem verschmierten Kajalstift beim Publikum Beschützerinstinkte auslösen.
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Will Church – »Hold On«
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Wer? Es ist doch immer wieder schön, wie Pop den Menschen eine Verwandlung erlaubt. Als er noch im Chor »Young Voices Brandenburg« sang, hieß er noch Willi Czuch – nun tritt der 28-Jährige als bärtiger Schmerzensmann mit Hut unter den Namen Will Church an. Eine wichtige Phase für diese Verwandlung war offenbar eine Zeit als Straßenmusiker in Brighton. Bei all den Forderungen, die großen Namen des deutschen Popgeschäfts sollten doch mal Verantwortung übernehmen für den ESC: Es hat auch etwas für sich, wenn nahezu Unbekannte ihre Chance erhalten.
Wie klingt's? Es ist allerdings nicht die erste Chance für Will Church, er trat auch 2021 bei »The Voice of Germany« an – und überzeugte alle vier Jurorinnen und Juroren bei der Blind Audition mit seiner Version des damaligen Eurovision-Siegertitels »Arcade« von Duncan Laurence. Das Dumme ist bloß: Auch sein eigener Titel für den ESC-Vorentscheid klingt fast genauso.
Würde er Letzter in Liverpool? Ja, vermutlich schon. Auf bewährte Rezepte zu setzen ist übliche Praxis beim ESC, aber etwas mehr Originalität dürfte es schon sein.
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Patty Gurdy – »Melodies Of Hope«
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Wer? Patricia Büchler, 26 und aus der Region Düsseldorf stammend, ist schon seit Jahren unterwegs in Deutschlands (medial etwas im Verborgenen) blühender Mittelaltermusikszene. Das liegt an dem Instrument, von dem sie sich den Künstlernamen geliehen hat: die Drehleier – auf Englisch: Hurdy Gurdy. Ein Duett mit der Band D'Artagnan kommt bei YouTube auf über vier Millionen Aufrufe. Patty Gurdys erstes Soloalbum trägt den schönen Titel »Pest & Power«.
Wie klingt's? »Melodies of Hope« ist ein optimistisch wirkender Popsong mit vage keltischen Anklängen, insbesondere im mit der Drehleier gespielten Refrain. Preise für Songwriting-Feinsinn werden sie nicht gewinnen, aber Patty Gurdy und ihr Produzent und Co-Songwriter Hannes Braun (der viel für Santiano gearbeitet hat) wissen, was sie tun.
Würde sie Letzte in Liverpool? Auf keinen Fall. Folk-Pop mit ungewöhnlichen Instrumenten ist ein geradezu klassischer Bestandteil der ESC-Mixtur und hat immer wieder schöne Erfolge gebracht. An die Magie von Siegertiteln wie »Nocturne« (1995) oder »Fairytale« (2009) reicht es zwar nicht heran; und eine Band wie Go_A (Ukraine 2021) hat musikalisch auf einem verwandten Feld weit mehr gewagt. Aber eine gute Platzierung zumindest im Publikumsvotum wäre drin.
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Ikke Hüftgold – »Lied mit gutem Text«
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Wer? Matthias Distel, 1976 in Limburg an der Lahn geboren, nennt sich, wenn er die Schwarzhaarperücke aufhat, Ikke Hüftgold. Unter diesem Namen hat er etliche Ballermannhits selbst vorgetragen (»Dicke Titten, Kartoffelsalat«, »Ich schwanke noch«) oder mit seiner Firma Summerfield Records produziert (»Layla«). Bemüht sich, das Partyschlagergeschäft nicht allzu zynisch wirken zu lassen. Lesen Sie mehr im SPIEGEL-Porträt .
Wie klingt's? Der Beat knallt durch, die Synthie-Fanfaren feuern an, es ist Partyschlagersound von der Stange. Entscheidender ist der Text, in dem Ikke Hüftgold mit heftigem Augenzwinkern die »Layla«-Debatte und die miserable deutsche ESC-Bilanz aufgreift. Manche Fans des Song Contests empfinden Ikke Hüftgold wie einen Troll, der sich ungewollt einmischt, der Sänger wiederum staunte: »Jetzt in der ESC-Bubble habe ich festgestellt: Wow, da kommt verdammt viel Hass«. Schnell ab zum Refrain, und der geht »La la-la-la lala-lala-la«.
Würde er Letzter in Liverpool? Dass Lala-Refrains international sind, wie Hüftgold singt, ist nicht von der Hand zu weisen, verwiesen sei auf den spanischen Siegertitel von 1968, »La, la, la«. Aber insgesamt kann man doch Zweifel haben, ob diese sehr deutschen Debatten über ein sehr deutsches Milieu in Europa auf viel Verständnis stoßen werden. Punkte aus Österreich, der Schweiz und Mallorca wären zu erwarten.
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wäre Frida Gold gewesen – die Startnummer bleibt nach deren Absage unbesetzt.
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Lord Of The Lost – »Blood & Glitter«
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Wer? Lord of the Lost ist eine Hamburger Dark-Metal-Kapelle um den Sänger Chris Harms, 33. Die Band ist seit ihrer Gründung 2007 kontinuierlich erfolgreicher geworden, durch unermüdliches Touren (zuletzt im Vorprogramm von Iron Maiden) und Auftritte bei Festivals wie Blackfield oder Castle Rock. Ihr jüngstes Album »Blood & Glitter« kam sogar auf Platz eins der deutschen Charts. Teil des Images ist aber auch Harms’ fürs Genre ungewöhnliche Pop-Vorliebe, die sich beispielsweise in Glitzergitarren und einem Roxette-Cover mit Gastsängerin Jasmin Wagner (Blümchen) manifestiert.
Wie klingt's? Chris Harms arbeitet auch als Musikproduzent in einem Tonstudio in Hamburg-Dulsberg, verlieh alten Recken wie Joachim Witt oder Nino de Angelo erfolgreich einen neuen, dunkel strahlenden Anstrich. Diesen Sinn fürs Populäre stellen Lord of the Lost in ihrem ESC-Song heraus: Melodische Zwischenteile, Rammstein-Pathos in den Strophen, Elektrospielereien wechseln sich ab mit gekonntem Metal-Gröhlen.
Würden sie Letzte in Liverpool? Nein. Auch wenn der Überraschungseffekt von Metal beim ESC allerspätestens mit Lordis Sieg 2006 verpufft ist: »Blood & Glitter« hat genug Crossover-Ansätze fürs Pop-Publikum, dazu gibt sich Sänger Chris Harms explizit queer. Hauptgefahr: Auch Australien schickt eine Metalband ins Rennen, deren Sänger sogar aus Deutschland stammt.
»Unser Lied für Liverpool«, Das Erste, ONE und Eurovision.de, 22.20 Uhr
Mit Material von der dpa
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