Endloses Erzählen
Als Edgar Reitz in jungen Jahren sein Heimatdorf im Hunsrück verließ, rief ihm sein Lieblingslehrer hinterher: »Dreh dich nicht um.« Genau das aber hat er fortan getan: zurückschauen, jahrzehntelang. Es ist die Quelle seiner Kunst geworden. Der Filmemacher Reitz, der dieses Jahr 90 Jahre alt geworden ist, ist der große Sehnsuchtsmann des deutschen Fernsehens und Kinos, ein Erinnerungskünstler, der am liebsten endlos erzählen würde, noch immer. Denn wovon wir uns nicht erzählen, das vergessen wir.
Mehr als 60 Stunden umfasst sein Epos »Heimat«, eine Jahrhundertchronik, ausgehend vom fiktiven Dorf Schabbach im Hunsrück. Es geht um Hochzeiten und Ehebrüche, Hungersnöte und politische Umbrüche. In den Familienschicksalen spiegelt sich die Geschichte der Deutschen. Dasselbe gilt nun für seine Autobiografie, auch sie ein Mammutwerk, fast 700 Seiten lang. Es ist die Geschichte eines Lebens, das die Geschichte eines ganzen Landes erzählt. Tobias Becker
Edgar Reitz: »Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen« Rowohlt Berlin; 672 Seiten; 30 Euro.
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Männer, Frauen, Alkohol
Die vielen Intellektuellen in Hong Sang-soos Filmen, schreibt Sulgi Lie, wirkten immer leicht minderbemittelt. Da sie nie bei der Arbeit zu sehen seien, sondern nur beim ziellosen Rumhängen, erfahre man nie, ob sie zu sprachlicher Eloquenz überhaupt fähig seien. Das Gegenteil lässt sich über den Berliner Filmwissenschaftler Lie sagen: Seine kleine Studie über Hongs umfangreiches, bislang 28 Filme zählendes Werk zeugt von Eloquenz und dazu noch von Witz und Umsicht. Mit einer allgemeineren Einführung in das Kino des koreanischen Regisseurs anhand der Alkoholika, die so viel und begeistert in seinen Filmen konsumiert werden, beginnt der schmale Band. Vier Kapitel zu den Filmen, die er seit 2015 gedreht hat, als er mit »Right Now, Wrong Then« den Goldenen Leoparden von Locarno gewann und eine neue Aufmerksamkeitsgrenze überschritt, schließen sich an. Das Buch macht wie die Filme von Hong desto mehr Spaß, je mehr man von seinen Filmen kennt: Die kontinuierliche Arbeit an der eigenen Motivik, von Lie mit »Männer, Frauen, Alkohol« vorläufig, aber dennoch treffend auf den Punkt gebracht, macht den Reiz von Hongs Werk aus. Wie dieser ideosynkratische Ansatz trotzdem auf mehr als nur sich selbst verweist, was Hongs Filme mit denen von Rohmer, Buñuel und Renoir gemeinsam haben, legt Lie mit kenntisreicher Klarheit dar. Hannah Pilarczyk
Sulgi Lie: »Hong Sang-soo. Das lächerliche Ernste« Le Studio; 96 Seiten; 15 Euro Hier zu beziehen
Widerständisches Potenzial
Im Berliner Kultursommer 2022 war die Ausstellung »No Master Territories. Feminst Worldmaking and the Moving Image« im Haus der Kulturen der Welt ein Höhepunkt: Rund hundert filmische Arbeiten von Frauen wurden dort gezeigt, teils dokumentarisch, teils experimentell, die meisten äußerst selten aufgeführt und allesamt sehenswert, denn gerade in der Summe setzte sich ein beeindruckendes Panorama feministischen Filmschaffens der vergangenen 50 Jahre zusammen. Das parallel zur Ausstellung erschienene, toll gestaltete Buch ist weniger begleitender Katalog als eigenständiger Sammelband, der das widerständische Potenzial von feministischem Filmschaffen jenseits des klassischen Erzählfilms prüft: Er verbindet aktuelle Essays und Gesprächsrunden unter zeitgenössischen Publizistinnen mit klassischen Aufsätzen wie »Outside In Inside Out« von Trinh T. Minh-ha, der einflussreichen vietnamesisch-amerikanischen Regisseurin und Theoretikerin, deren Schriften auch der Ausstellungstitel entlehnt ist. Im Gegensatz zur Ausstellung ist das Buch deutlich akademischer ausgelegt, aber wie in der Ausstellung kann man sich dank der Vielfalt der Texte gut herauspicken, was und wem man Aufmerksamkeit schenken will. Hannah Pilarczyk
Erika Balsom, Hila Peleg (Hg.) »Feminist Worldmakig and the Moving Image« HKW/MIT Press; 512 Seiten; 35,04 Euro
Feminist Worldmaking and the Moving Image
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Nackte Disziplin
Der Filmemacher, Welterkunder und Sonderling Werner Herzog, 1942 in München geboren und in einem abgelegenen bayerischen Gebirgstal aufgewachsen, erzählt in seiner Autobiografie von einem einzigartigen Künstlerleben. Natürlich von legendären Drehs in polaren Eiswüsten oder im Dschungel Südamerikas, von den Brüll- und Gewaltattacken des Schauspielers Klaus Kinski, aber auch von den Frauen in seinem Leben. Von soldatischen Tugenden, die es ihm ermöglicht haben, mehr als 70 Filme zu drehen. »Ein guter Teil meines Wesens ist bis heute nichts als nackte Disziplin«, schreibt der Regisseur. Mit klarem, poetischem Vokabular schildert er eine schöne, anstrengende Kindheit in Krieg und Nachkriegszeit. Ein Studium unter anderem der Theaterwissenschaft brachte er nicht zu Ende, früh reiste er nach Griechenland, in die USA, nach Mexiko, wo er unter anderem als Rodeo-Clown Geld verdiente. Zum Film kam er als Autodidakt. Seine Begabung für Katastrophen ist enorm. Über einen bösen Skiunfall schreibt er, er sei ihm aus »reiner Angeberei« passiert. Vor allem für seine eher dokumentarischen Filme wird Herzog in den USA und vielen Teilen der Welt als großer Mann gefeiert. Und doch behauptet er in dieser höchst unterhaltsamen Biografie, was über ihn gelästert oder ihm nachgerühmt werde, sei ihm gleichgültig. Zweifel an der eigenen Kunstmacht sind dem Filmemacher fremd. Lehrer hat er immer als unbrauchbar abgelehnt, so Herzog: »In mir war etwas, das man im Katholizismus Heilsgewissheit nennt.« Wolfgang Höbel
Werner Herzog: »Jeder für sich und Gott gegen alle: Erinnerungen« Hanser; 352 Seiten; 28 Euro.
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Brennendes Papier
Zu Ehren des 100. Geburtstags von Pier Paolo Pasolini gab es in diesem Jahr eine kaum überschaubare Zahl an Filmreihen, Sonderscreenings und Diskussionsrunden. Passend dazu konnten sich die schönsten Publikationen zu PPP auch nicht begrenzen und kommen auf jeweils zwei Bände. Von den Herausgebern Fabien Vitali und Gabriella Angheleddu stammt das Bündel »Pasolini Bachmann«. Der erste Band versammelt zum ersten Mal auf Deutsch die 15 Interviews, die der deutsch-jüdische Journalist und Regisseur Gideon Bachmann mit Pasolini im Verlauf von dessen Karriere geführt hat. Im zweiten Band kommentiert und annotiert der Romanist Vitali die Gespräche so umfang- und kenntnisreich, dass der Teil fast wie eine eigenständige Werkschau sowohl von Pasolini als auch von Bachmann funktioniert.
»Writing on Burning Paper«, herausgegeben von Annabel Brady-Brown und Giovanni Camia Marchini, kombiniert einen Gedicht- mit einem Essayband. Ersterer enthält eine neue Übersetzung von Pasolinis Langgedicht »Who is me/Dichter der Asche« ins Englische, zweiterer eine auch grafisch äußerst reizvolle Sammlung von Statements, Essays, Notizen und Skizzen zeitgenössischer Regisseurinnen und Regisseure wie Radu Jude, Angela Schanelec oder Mariano Llinás, wie Pasolini ihr eigenes Filmschaffen beeinflusst hat. Während sich anhand von »Pasolini Bachmann« Geschichte nachzeichnen lässt, führt »Writing on Burning Paper« in die Gegenwart und darüber hinaus: Die Grenzen des Einflusses von Jahrhundertkünstler Pasolini sind noch immer nicht abzusehen. Hannah Pilarczyk
Annabel Brady-Brown, Giovanni Camia Marchini (Hg.): »Writing on Burning Paper« Fireflies Press; 40 und 160 Seiten; 32 Euro Hier zu beziehen
Fabien Vitali, Gabriella Angheleddu (Hg.): »Pasolini Bachmann« Galerie der abseitigen Künste; 854 Seiten; 64 Euro
Pasolini Bachmann
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