Andrew Dominiks Film »Blond« über das Leben von Marilyn Monroe kann man sich am besten als eine Geisterbahn vorstellen, die Dominik allein für Monroe gebaut hat. Er lässt sie in den Wagen ganz vorn einsteigen und schickt sie eine Strecke entlang, auf der chronologisch aufgereiht die größten Traumata ihres Lebens auf sie warten: Die psychisch kranke Mutter, die versucht, sie als Kind zu ertränken. Der unbekannte Vater, der sich nie bei ihr meldet. Der Produzent, der sie beim Vorsprechen vergewaltigt. Der erste Ehemann, der sie schlägt. Der Zweite, der in ihr nur die Wiedergängerin seiner Jugendliebe sieht. Die aufgezwungenen Abtreibungen. Die Fehlgeburten. Der Präsident, der ihr seinen Penis in den Mund stopft.
Bemerkenswert an dieser Geisterbahnfahrt ist sonst noch, dass sie knapp drei Stunden dauert und Monroe, verkörpert vom kubanischen Shootingstar Ana de Armas, sie in sehr vielen Momenten oben ohne absolvieren muss. Ah, und lebend kommt sie natürlich auch nicht raus.
Ich habe überlegt, wann ich das letzte Mal einen Film gesehen habe, der so voller Mitleidlosigkeit war wie »Blond«. Mir ist der chilenische Film »El Club« von Pablo Larraín eingefallen. Aber der handelte von pädophilen Priestern, die sich an Schutzbefohlenen vergangen haben und dennoch einen komfortablen Ruhestand von der katholischen Kirche ermöglicht bekommen. Womit Marilyn Monroe einen Film wie »Blonde« verdient haben könnte, ist schwer vorstellbar.
Nur Traumata, null Talent
Ob Dominik, der bislang vor allem Männerfilme wie »Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford« gedreht hat, es ihr übel genommen hat, dass sie die berühmteste Schauspielerin aller Zeiten ist? Dass sie auch 60 Jahre nach ihrem Tod für die Verführungskünste des Kinos steht wie niemand sonst? Die Vehemenz, mit der Dominik dagegen anfilmt, dass Monroe irgendetwas von ihrem Ruhm verdient, geschweige denn sich erarbeitet haben könnte, ist jedenfalls erstaunlich.
Das wäre ja gar keine Schauspielerei, sondern nur zur Schau gestellte psychische Probleme, flüstert im Film ein Studioboss, nachdem Monroe bei einem Vorsprechen ihre Figur am Rande des Nervenzusammenbruchs gespielt hat. Dasselbe scheint Dominik, der das Drehbuch auf der Grundlage von Joyce Carol Oates' gleichnamigem Roman verfasst hat, auch von Monroe zu denken. Nur Traumata, null Talent.
Immerzu bedrängt von Fans und Fotografen: De Armas in »Blonde«
Foto: NetflixFast hat es schon einen Rhythmus, wie oft er Szenen einbaut, in denen Monroe komplett hirnlos erscheint. Sie weiß nicht, was man mit einem Ei in der Küche macht. Sie schneidet Blumen zehn Zentimeter zu kurz für die Vase ab. Sie fällt mit einem voll beladenen Tablett der Länge nach hin. Dumm, dumm, dumm, dumm, dumm. In einem in Filmkreisen bereits berühmten Interview mit dem britischen Magazin »Sight & Sound« hat Dominik herumgepöbelt, dass doch niemand ernsthaft Monroes Filme schaue.
Kein Entkommen aus dem Opferstatus
Um mehr zu überzeugen, hätte »Blonde« keine erbauliche Geschichte über die brünette Norma Jeane Mortenson werden müssen, die sich aus ärmlichsten Verhältnissen zum platinblonden Weltstar hocharbeitet. Der Film hätte sich nur mehr für die Widersprüche von Mortenson interessieren müssen, die mit Marilyn Monroe eine Figur schuf, der sie selbst nie mehr entkam.
Doch Dominik gesteht Mortenson noch nicht einmal zu, dass sie selbst entdeckt hat, welche Wirkung sie auf Männer (und Frauen) hat. Das muss ihr in »Blond« erst ein Mann erklären: Um sie in eine (fiktive) ménage à trois zu locken, bringt Charlie Chaplins Sohn Cass (Xavier Samuel) sie dazu, sich vor einen Spiegel zu stellen und staunend die Formvollendetheit der eigenen Brüste zu entdecken. Endlich erleuchtet stürzt sie sich ins Bett mit Cass und einem Kumpel.
Dass Norma Jeane zuvor als Pin-up-Model gearbeitet hat, also offensichtlich um ihren Sex-Appeal weiß und ihn auch schon zu Geld gemacht hat, hat der Film erst kurz zuvor gezeigt. Er leugnet es dann aber wieder, um Mortenson bloß nicht aus dem Opferstatus entwischen zu lassen.
Momente von Menschlichkeit
Vieles an »Blond« ist fiktiv, und Dominik hat alles Recht der Welt, Monroes Leben zu interpretieren. In manchen Szenen, in denen er erzählerisch frei dreht, gelingt ihm auch Besonderes. Dann erzielt er eine klaustrophobische Intensität – etwa wenn ihre manische Mutter (Julianne Nicholson) die siebenjährige Norma Jeane ins Auto setzt und mit ihr mitten in eine Feuerbrunst in den Hollywood Hills hineinsteuert.
Zweite Ehe mit Intellektuellem: De Armas mit Adrien Brody als Arthur Miller
Foto: NetflixGleichzeitig verbringt der Film sehr viel Zeit damit, die berühmtesten Fotos aus Monroes Karriere nachzustellen und springt dafür zwischen Farbe und Schwarz-Weiß hin und her und wechselt die Formate. Ein tolles Kostüm- und Szenenbild liefert fast perfekte Imitationen von Monroe, wie sie am Strand in Strickjacke tollt, im pinken Satinkleid »Diamonds Are a Girl's Best Friend« singt, im Pünktchenkleid neben ihrem frisch Angetrauten, dem Autor Arthur Miller (Adrien Brody) posiert.
Ana de Armas verschwindet oft genug in diesen Bildern, so groß ist die Ähnlichkeit. Dass an manchen Stellen ihr kubanisch-spanischer Akzent durchklingt, wurde nach der Premiere des Trailers lautstark moniert. Im Film unterstreicht der Akzent eher die Künstlichkeit von Monroe, als dass er störte. Und de Armas große, gefühlvolle Augen verleihen dem Film zumindest Momente von Menschlichkeit.
Was sich hinter diesen Augen abspielt, dürfen bei Dominik aber nur »daddy issues« sein, keine ernsthaften Gedanken. Die echte Marilyn Monroe war belesen, engagierte sich gegen die Kommunistenhatz in den USA und gründete ihre eigene Produktionsfirma. Im Film säuselt sie dagegen infantil in der dritten Person: »Norma Jeane is just a vessel«, Norma Jeane ist nur ein Gefäß.
Im Innersten
Ein Gefäß für Babies meint das hier, und zwar wörtlich. Zweimal fährt die Kamera in Monroes Uterus, um sich »das Gefäß« von innen anzuschauen. Das erste Mal drängt es in sie, als eine Abtreibung ansteht. Monroe hat ihr zugestimmt, weil sie sonst ihren Vertrag mit Fox nicht erfüllen könnte. Im OP-Saal kommen ihr jedoch Zweifel, sie will den Eingriff abbrechen, doch die Ärzte zwingen sie dazu. Eine Abtreibung an einer Frau zu inszenieren, die sich schreiend mit Händen und Füßen dagegen wehrt – das ist auch in Zeiten, in denen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Frauen weniger unter Beschuss steht, reaktionäre Agitation.
Ärger wird es aber noch beim zweiten »vessel shot« in Marilyn. Dort trifft die Kamera auf den Fötus, der das Wunschkind von ihr und Arthur Miller geworden wäre, hätte Monroe keine Fehlgeburt erlitten. »Wirst du mir dieses Mal wieder wehtun, Mama?«, lässt Dominik den voll animierten Fötus sagen. Die extreme Rechte in den USA, die auch Fehlgeburten unter Strafe stellen will, könnte die Szenen direkt für Wahlwerbung nutzen.
Womit dann auch die Einzigen gefunden wären, die diesen Film mit Gewinn sehen könnten.
»Blond« ist seit dem 28. September auf Netflix verfügbar.
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