Album der Woche:
Arctic Monkeys – »The Car«
Man könnte leicht vergessen, dass Alex Turner erst 36 Jahre alt ist, so melancholisch und weltüberdrüssig klingt er in den neuen Songs seiner Band Arctic Monkeys. Vielleicht zählen Popstarjahre ja ein wenig wie Hundejahre: Je heller die Scheinwerfer brennen, desto schneller kommt der Burn-out. Ausgebrannt erscheint allerdings nur der Protagonist in Turners Songs. Der Sänger, Songwriter und Bandleader selbst hingegen befindet sich im Vollbesitz seiner Kräfte auf »The Car«. In immersiven, luxuriös und träge auf Piano-, Bass- und Streicherarrangements dahingleitenden Soundtrack-Kompositionen entwirft er fast filmisch wirkende Szenen mit einem Erzähler und Crooner, der mit bittersüßen Gefühlen auf die Welt des Glamours und des Ruhms blickt.
Mit der rotzig-druckvollen, juvenilen Rockmusik ihres Debütalbums haben diese orchestral schwelgenden, erwachsen gewordenen Arctic Monkeys nichts mehr zu tun, so scheint es. Dabei hat sich das, worüber Turner singt, kaum verändert – nur seine Perspektive. Und natürlich sein jetzt um diverse Fähigkeiten erweitertes Talent, die Lyrics musikalisch einzubetten und zu illustrieren. Man könnte also sagen, die Band hat sich radikal neu erfunden, bleibt sich im Kern aber treu. Das allein ist eine der besten und unwahrscheinlichsten Geschichten, die die Rockmusik in jüngster Zeit zu erzählen hatte. Denn normalerweise haben Bands zu Beginn ihrer Karriere vielleicht drei, vier gute Alben in sich, danach beginnt oft der elende Weg ins Selbstzitat und die kreative Sackgasse.
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Die Arctic Monkeys waren für ein ähnliches Schicksal prädestiniert. Was man ja auch leicht vergessen kann ist, dass die vor genau 20 Jahren gegründete Band einst als eines der ersten YouTube-Phänomene zu Ruhm und Plattenvertrag kam. Ihr Debütalbum »Whatever People Say I Am, That’s What I’m Not« war 2006 das am schnellsten verkaufte Album der britischen Charts-Historie und saß musikalisch komfortabel zwischen anderen Post-Punk-Revival-Platten, die zu jener Zeit erschienen. Der Zenit dieser Rock’n’Roll-Phase war 2013 mit dem fünften Album »A.M.« erreicht, danach wäre es wohl alsbald bergab gegangen, wenn sich Alex Turner nicht bereits nebenbei mit seiner Zweitband The Last Shadow Puppets in anderen Genres, Sxities-Soul und Lounge-Pop, ausprobiert hätte. 2018 implementierte er diesen neuen Sound auch bei den Arctic Monkeys. Auf dem verblüffenden »Tranquility Base Hotel & Casino« waren aus den Lederjackenträgern Salonlöwen im Samtanzug geworden. Mit Turner als Dandy-Frontmann mit einer Attitüde irgendwo zwischen Bryan Ferry, David Bowie (dessen Duktus er im Song »I Ain’t Quite Where I Think I Am« kompetent imitiert) und Serge Gainsbourg.
»The Car« verleiht diesem unverschämten (und letztlich erfolgreichen) Move nun zusätzliches, nachhaltiges Gewicht. Im Eröffnungsstück »There’d Better Be A Mirrorball« lässt Turner im langen, sich genüsslich aufbauenden Intro »Walk On By« von Isaac Hayes vorbeiziehen, bevor er dann seine eigene Interpretation dieser traurigen Bacharach-Weise anstimmt: Auch hier wurde der Protagonist verlassen, aber statt der Ex zu sagen, sie soll einfach vorbeigehen, hat Turner dezidierte Inszenierungsvorgaben für seinen Abgang, bei dem er, auch wenn er vorher gesagt hat, er würde es nicht tun, doch wieder den alten Romantiker rauslassen würde: »So if you wanna walk me to the car / You oughta know I’ll have a heavy heart / So can we please be absolutely sure / That there’s a mirrorball?«, singt er.
Unter dieser Disco-Glitzerkugel spielten sich bereits viel Songs vom Debütalbum ab, dessen Titel (und manche Songs) sich auf den Roman »Saturday Night And Sunday Morning« von Alan Sillitoe bezogen. In der emotional zwielichtigen Phase zwischen Adrenalin und Absturz schweben nun auch wieder viele Songs auf »The Car«. Einige wirken wie vom Pub in die High Society gedrehte Nouvelle-Vague-Fortsetzungen von frühen Hits wie »Still Take You Home« oder »When The Sun Goes Down«, einige spielen im grellen Tageslicht, so wie »The Car« oder »Hello You«, in denen sonnige Urlaubsszenen an der Riviera plötzlich mit grummelnden elektronischen Sounds bedrohlich gewittrig wirken können. Ein Fluchtauto (oder Jetski) ist immer irgendwo in der Nähe, wird aber nicht benutzt. So wie die Arrangements der Songs sich vorsichtig und behutsam vorantasten und mit ihrer Schönheit betören, so bleiben auch die Protagonistinnen bis auf Weiteres in ihnen gebannt.
Der Erzähler ist derselbe moralisch unstete Geselle wie in früheren Songs der Band, er geriert sich als oftmals zynischer Regisseur der Partyszenerien, die er beobachtet, hält dem Model in »Body Paint« mokant vor, dass sie überall noch Reste von Körperfarbe hat: Der Lack ist ab, Baby! Allerdings verliert er im lustigen »Big Ideas« die Kontrolle über die hochtrabenden musikalischen Ideen, die ihm entgleiten, während das Orchester schon spielt. Und in »Mr Schwartz« kommen die »Dancing Shoes« des Debütalbums noch mal zum Tragen, sie sind allerdings schmutzig, und der Samtanzug muss dringend mit der Fusselrolle behandelt werden. »Help me to get untied from the chandelier«, singt Turner, inzwischen übrigens ein beeindruckend versierter Northern-Soulsänger, in »Sculptures of Anything Goes«, einem der wenigen schnelleren Songs des Albums. Fesselspiele im Kronleuchter: Schöner wurden Freud und Leid einer Showbiz-Existenz lange nicht auf einem Popalbum verhandelt. (9.0)
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Kurz abgehört:
Dry Cleaning – »Stumpwork«
Noch eine Band, die sich von Genrezuschreibungen emanzipiert. Aus reiner Hilflosigkeit ordnete man Dry Cleaning nach der Veröffentlichung ihres umwerfenden Debüts »New Long Leg« der neuen Welle britischer Post-Punk-Acts zu. Auf ihrem nicht minder faszinierenden Nachfolgewerk, erneut von Indieflüsterer John Parish produziert, lösen sich musikalische Zwänge nun vollends auf: Die Band beherrscht beschwingten Belle-and-Sebastian-Jangle (»Gary Ashby«) ebenso wie verjazzten Ambient- oder Mogwai-Postrock (»Anna Calls From The Arctic«) oder funky Kraut-Psychedelic (»Hot Penny Day«). Das lässig hingerockte »Don’t Press Me« klingt da nur noch wie ein Pop-Zugeständnis. Star der Dry-Cleaning-Maschinerie, die live zu immersiven Jams neigt, bleibt natürlich Sprechgesangskünstlerin und Texterin Florence Shaw, die erneut ziellos durch London streift und ihre Betrachtungen dabei in einem sonor-lakonischen, oft surrealen Stream-of-Consciousness teilt – als stünde sie am Fließband einer Alltagsprosafabrik und verrichte gelangweilt ihr monotones Stumpwork. Manchmal ist sie plötzlich pointiert (»I see male violence everywhere«) manchmal, etwa in »Conservative Hell« oder im Titelstück, beschreibt sie allegorische Szenen aus der britischen Gegenwart zwischen hirnlosem Konsumismus und dekadentem Materialismus einerseits, Armut und Obdachlosigkeit andererseits: »I thought I saw a young couple clinging to a round baby / But it was a bundle of trash and food / Trash and food / Doo doo doo doo doo«. Bevor’s einem zu sehr unter die Haut geht, lenkt die Band mit ein paar elaborierten Girlanden ab, und Shaw rettet sich mit Dada-Lyrik in stupende Songs wie »Icebergs«, in dem sich Trio und Wire die Hand reichen. Sagen wir’s mit Christiane Rösinger: Ein Lob der stumpfen Arbeit! (8.3)
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bbno$ – »Bag Or Die«
Diese Kolumne neigt nicht zu Nostalgie, aber ach, war das nicht ganz schön in den Neunzigern? So unverschämt hedonistisch, politisch so unkompliziert? Na ja, geht so. Aber kein Wunder, dass das Nineties- und Nullerjahre-Revival gerade kräftig rollt. Der 26-jährige kanadische Rapper bbno$ (Baby No Money) hat die richtige Retro-Attitüde dafür (»I don't give a fuck about anything and try to have as much fun as I humanly can«), seit Hits wie »Lalala« (mit Y2K) und »Edamame« (mit Rich Brian) Millionen Fans auf TikTok – und genug griffige Hooks, um jetzt schon das siebte Album mit infektiösen Zweieinhalb-Minuten-Tracks zu veröffentlichen – seit 2018. »Bag Or Die« ist ein Kopfnicken zu 50 Cent, noch so ein Nullerjahre-Meilenstein, aber in den Texten von bbno$ alias Alexander Gumuchian, der armenisch-dänisch-schweizerische Wurzeln hat und als Weißbrot gelesen werden muss, dient das Hip-Hop-typische Statussymbol- und Aufsteigergeprotze zumeist nur als Kulisse für möglichst gewitzte Wortspiele (»Robert Patekson«, harhar). Der Grad der Albernheit erinnert an die Gag-Kollabos von Jimmy Fallon und Justin Timberlake (»vasectomy«), die Kostüm- und Anarchie-Wut in den Videoclips an Ali G. Aber Gumuchian sollte aufpassen, dass er seinen effizienten, inzwischen perfektionierten Sound aus Karibik-Samples, Mariachi-Gitarren, »Candy Shop«-Rhythmen und Schüttelreimkaskaden nicht überstrapaziert. So unapologetisch viel Spaß dieses gutmütige Album auch macht: Wie wohltuend, wenn bbno$ seinen frechen Flow zur Abwechslung mal in einen zeitgenössischen Dance-Track wie »Mathematics« dröppeln lässt. (7.3)
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M.I.A. – »Mata«
»Freedom is a state of mind / Whatcha gonna do with mine?«, fragt Mathangi Arulpragasam aka M.I.A. gleich im ersten, wilden Dance-Track ihres neuen Albums: Freiheit ist ein Seelenzustand, also eine ganz persönliche, subjektive Sache. Was macht man also mit der Meinungsfreiheit, die sich die britische Künstlerin mit sri-lankischen Wurzeln in jüngster Zeit genommen hat? M.I.A., eine furchtlose und furiose Pionierin des aktivistischen Awareness-Pop, die sich auch auf diesem Album wieder als Anwältin für das Empowerment von Frauen und des Globalen Südens gibt, twitterte unlängst über den wegen seiner Falschbehauptungen zum Sandy-Hook-Schulmassaker verurteilten Schwöri und Rechtsideologen Alex Jones, dass man dann ja wohl auch Befürworter der Coronaimpfung bestrafen müsse, die würden schließlich auch Lügen in die Welt setzen. Seufz. Das trübt ein wenig die Freude über das erste, eigentlich sehr gute und effizient mit vielerlei asiatischen Zutaten köchelnde M.I.A.-Album seit sechs Jahren. Mit »K.T.P. (Keep The Peace)« und »Marigold« hat sie sogar eine Friedenshymne samt niedlichem Kinderchor und eine überraschend sanfte, wenn nicht naive Mutmachballade parat, in der sich M.I.A.s gewohnte Kriegsschauplätze mit den aktuellen in der Ukraine zeitgeistig verschränken könnten. Man möchte mit ihr über ihre zahlreichen Errungenschaften jubeln, wenn sie im Selbstweihrauch von »Popular« stolz fordert: »Love me like I love me«. Aber bei aller Freiheitsliebe: schwierig gerade. (7.5)
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Lucrecia Dalt – »¡Ay!«
Lucrecia Dalt, eine in Berlin lebende Elektronikmusikerin und experimentelle Klangkünstlerin, ist in der geneigten Szene für vieles bekannt und beliebt, nur bisher nicht für den betörenden Schönklang und die sehnsüchtigen, organisch-warmen Rhythmen ihres sensationellen neuen Albums, dessen Titel wohl nicht umsonst ein spanischer Ausruf der Überraschung ist: Oh! Dalt erfand für ihr neuestes Konzept das Narrativ einer Alienfrau namens Preta, die im Videoclip zu »No Tiempo« auf der Erde (Mallorca) landet und erst mal am Felsen leckt. Es geht um das Erleben von Haptik und Sinnlichkeit durch Musik, die zugleich auch eine Zeitreise zu den Boleros und Sons ist, die Dalt in ihrer Kindheit in Kolumbien umgaben. Wie Preta nimmt sie also auch selbst Kontakt auf – zu den Klängen und Emotionen ihrer Vergangenheit. Ganz behutsam baut ihre Band, mit nah ans Mikro gerückten Congas und Bongos, Trompete, Leierkasten, Klarinetten und Doppelbass eine Tanzhalle für Dalts elektronische Synthesizersounds. In diesem der Zeit und dem Raum entrücktem Safe Space finden das europäische Techno-Alien und die südamerikanische Rhythmus-Anima einen versöhnlichen, ultimativ erlösenden Groove. (8.5)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).
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