Album der Woche:
Worüber denken digitale Sprachassistenten wohl nach, wenn sie im Leerlauf sind? Lassen sie ihre künstliche Intelligenz schweifen, streifen sie durch die Weiten des virtuellen Raums, schlendern durch Google Maps, gucken sie YouTube-Videos? Versuchen die Siris und Alexas, aus der grenzenlosen Flut der Informationen und Eindrücke einen Sinn zu generieren und werden sie dabei, überfordert vom Optimierungs-Druck und Verwertungs-Pragmatismus eines Service-Bots, insgeheim zynisch und depressiv? So wie wir alle auch?
Über so etwas macht man sich Gedanken, wenn man das Debüt-Album der Südlondoner Band Dry Cleaning hört. Das liegt vor allem an der Sängerin Florence Shaw, die eigentlich bildende Künstlerin, Illustratorin und Autorin ist. Sie wurde von ihren Bandkollegen, die seit Jahren mehr oder weniger erfolgreich in der britischen Hardcore-Szene unterwegs waren, in einer Karaoke-Bar entdeckt.
Aber singen kann oder will Shaw nicht, also trägt sie ihre Songtexte, einen surrealen, oft unzusammenhängend wirkenden, aber exakt beobachteten Strom von Alltagseindrücken, in einem hinreißend ausdruckslosen Sprechgesang vor, eine frei assoziierende Roboterstimme nach der Algorithmus-Apokalypse: »Do everything and feel nothing«, lakonisiert Shaw im ersten Song »Scratchcard Lanyard«, über ihren Gemütszustand. Das Rubbellos (Scratchcard) der lokalen Lotterie hängt ihr mit einem schicken Bändchen (Lanyard) um den Hals, als wäre es ein exklusiver Access-All-Areas-Pass. Ein effektives Bild für die Jämmerlichkeit der Existenz im Spätkapitalismus.
Die Band spielt dazu recht klassischen, aber sehr effizienten und schön monotonen Post-Punk und Post-Rock: Young Marble Giants, Wire, Sonic Youth, Mogwai, alles drin. »New Long Leg« ist ein grandioses Album für alle, die sich in den ersten warmen Frühlingstagen hemmungslos der Misanthropie hingeben wollen, weil die kopflos-fröhliche Menschenmasse da draußen sie aggressiv macht. Oder, wie Florence Shaw es im Noise-Gewitter des letzten Songs »Every Day Carry« auf den Punkt bringt: »I just want to put something positive into the world, but it’s hard because I’m so full of poisonous rage.« Die Gitarren fiepen und jaulen in dieser Siebenminuten-Schlusspointe wie ein altes Modem bei verzweifelten Verbindungsversuchen im Äther.
Dry Cleaning gehören zur Speerspitze einer Reihe neuer, furios verbitterter Post-Punk-Bands, darunter Shame, Black Midi, Black Country, New Road, Goat Girl oder Squid. Auch sie wurden im Umfeld des Clubs The Windmill in Brixton groß, der Unterschied ist, dass sie über eine wohltuende Selbstironie verfügen, sowohl was ihr Genre betrifft als auch ihre Inhalte. Erstes Aufsehen erregte die Band 2019 mit einer ihrer ersten Singles, »Magic of Meghan«, einem doppelbödigen Versuch, die von der Presse attackierte Duchess of Sussex als positives Rollenmodell zu verteidigen. »I'm smiling constantly when people constantly step on me«, heißt es, daran emphatisch anknüpfend, im neuen Song »Her Hippo«.
Shaw selbst sagte in einem Interview, ihre Themen kreisten »um mich als Frau in dieser Welt, um die Beziehungen, die ich eingehe, und um die Art, wie wir unser Leben organisieren und ordnen«. Vielleicht, räumt sie ein, stecke aber auch gar keine tiefere Bedeutung hinter den Texten.
Macht ja nichts. Manchmal reicht es ja, sich von guter Musik einfach verstanden zu fühlen. Etwa, wenn Shaw in »Strong Feelings« als »emo dead stuff collector« durchs British Museum wandert, aber letztlich auch in der Kunst keine Antworten findet: »Too much to ask about/ So don't ask/ It’s useless to live«.
Ach, man möchte Florence Shaw sofort als ständige Sprach- und Lebensassistentin verpflichten, zu Hause, im Büro, im Navi – und sich von ihr in diesem Femme-Fatalismus immer mal wieder ganz nüchtern und trocken Wahrheiten wie diese um die Ohren hauen lassen: »Every day is a dick«. Ein Geschenk. (8.5)
Preisabfragezeitpunkt
02.04.2021 09.05 Uhr
Keine Gewähr
Kurz Abgehört:
Major Murphy – »Access«
Gibt es eigentlich College-Rock noch – oder hören die Studis heute nur noch Hip-Hop? Major Murphy aus Michigan jedenfalls, zuletzt Live-Band von Waxahatchee, klingen nostalgisch nach dem Campus-Sound der Achtziger- und Neunzigerjahre, nach Connells, Feelies oder Breeders, mit schönen, melancholischen Melodien, dazu ein bisschen Yacht-Rock mit Vocoder und dezenter Gitarren-Noise. Play it loud! (7.2)
Ryley Walker – »Course in Fable«
Was darf man erwarten von einem US-Musiker, der einst ein komplettes, verschollenes Album der Dave Matthews Band gecovert hat und auf Fotos stolz alte Genesis-Tickets in die Kamera hält? Prog und verjazzten Folk natürlich, auf seinem neuen Album produziert von John McEntire (Tortoise): schön verpuzzelter, sanft swingender Postrock im Chicago-Stil also. Für Freunde von Jeff Tweedy und John Martyn. (7.7)
Schmyt – »Gift«
Mit seinen tollen, nachtdepressiven Emo-Rap-Singles »Niemand« und »Taximann« hatte Schmyt bereits kleine Hits, zuvor sang er in der in der Rap-Szene beliebten Elektro-Dancehall-Band Rakede. Die rumpfschwingende Nähe zu Seeed und das Feature von Hip-Hop-Grunger RIN im Titelsong seiner sehr guten Debüt-EP überraschen also nicht. »Ich fühl' mein Gesicht nicht«, singt er darin: The Weeknd aus Berlin? (7.9)
Flock of Dimes – »Head of Roses«
Die komplexen Arrangements von Jenn Wasner, sagt ihre Gitarristin Meg Duffy, wirkten oft, als würde man beim Balletttanzen versuchen, Algebra-Aufgaben zu lösen. Auf ihrem zweiten Album als Flock of Dimes setzt die US-Musikerin, eine Hälfte von Wye Oak, nun auf größere Direktheit und pure Emotion. Das erinnert, in »Price of Blue«, an Neil Young, in der sanfteren zweiten Hälfte an den sphärischen Knuspel-Folk ihres Kumpels Bon Iver. Mit Trompete. Bezaubernd. (8.2)
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