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«Technik ist Biologie» - Watson

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bild: watson

Interview

Mensch, Natur und Technik sind drei voneinander getrennte Dinge. So lautet unsere gängige Vorstellung. Warum dies überholt und warum ein neues Zeitalter der Biologie angebrochen ist, erklärt Professor Tobias Rees.

12.03.2023, 10:1712.03.2023, 12:42

Philipp Löpfe

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Einer der wenigen Bibelsätze, welche die Menschen auch in unserer säkularen Gesellschaft kennen, lautet: «Macht euch die Erde untertan.» Wahrscheinlich kein Satz, hinter dem Sie stehen?
Tobias Rees: Wir müssen dazu gar nicht die Bibel bemühen. Im legendären Film «African Queen» sagte Audrey Hepburn zu Humphrey Bogart: «Die Natur ist dazu da, dass wir uns über sie erheben.» Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass das Wort «Natur» im Alten Testament gar nicht vorkommt.

Die Erschaffung der Welt des böhmischen Zeichners und Kupferstechers Wenzel Hollar (1607–1677).
Die Erschaffung der Welt des böhmischen Zeichners und Kupferstechers Wenzel Hollar (1607–1677).bild: wikimedia

Das Denken der Aufklärung ist ebenfalls von dieser Idee geprägt, etwa in den Schriften von Francis Bacon und René Descartes. Descartes war überzeugt, dass Tiere dumm sind und keine Gefühle haben.
Das trifft zu, deshalb ist es heute auch ganz einfach, Descartes nicht zu mögen.

Weshalb sollten wir ihn mögen?
Im Mittelalter bedeutete «Natur» nicht wie heute Pflanzen, Bäume oder Tiere. Der Begriff war vielmehr allumfassend. Die Natur war eine Art göttliche Idee, und die Dinge, die wir sehen, sind bloss ein Abklatsch dieser Idee. Diese Idee erfasst man durch Kontemplation. Doch nicht alle Menschen sind dazu in der Lage, nur diejenigen, welche über die göttliche Vernunft verfügen und die sich den Luxus erlauben können, die Schriften von Aristoteles und Platon zu studieren. Die anderen müssen arbeiten und beten. Jetzt kommt Descartes mit einer radikalen Idee daher und sagt: Alle Menschen haben gleich viel Vernunft.

Was meint Descartes, wenn er von «Vernunft» spricht?
Es ist die Fähigkeit, Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden. Das war zu seiner Zeit radikal, denn es bedeutet auch, dass kein Mensch jemanden braucht, der ihm sagt, was wahr und was falsch ist.

René Descartes (1596–1650), der französische Naturwissenschaftler, von dem der berühmte Satz «Cogito ergo sum» («Ich denke, also bin ich») stammt.
René Descartes (1596–1650), der französische Naturwissenschaftler, von dem der berühmte Satz «Cogito ergo sum» («Ich denke, also bin ich») stammt.bild: wikimedia

Und die Tiere haben deshalb keine Vernunft?
Für Descartes ist Natur einfach nur Materie. Um sie zu verstehen, braucht man keine göttliche Vernunft. Sie lässt sich mit der menschlichen Vernunft studieren. Um 1630 herum hat Descartes damit die Grundlage für den modernen Begriff des Menschen gelegt, in dem Sinne, dass alle Menschen gleich sind und jeder für sich selbst denken kann.

Tobias Rees

Tobias Rees ist Professor für Geisteswissenschaften. watson hat ihn am Trendtag des Gottlieb Duttweiler Instituts getroffen.

Im Mittelalter war die Natur etwas Gefährliches. In der Schweiz sind die Bauern niemals auf die Berge gestiegen. Das taten erst die verrückten britischen Adligen im 19. Jahrhundert.
Der italienische Dichter und Historiker Francesco Petrarca hat 1336 als erster Mensch den Mont Ventoux bestiegen.

Ein Berg, der heute vor allem bei den Fans der Tour de France ein Begriff ist.
Ja, aber anders als die Velorennfahrer hatte Petrarca dabei ein schlechtes Gewissen. Er macht etwas, was Menschen nicht tun dürfen. Der Blick von oben ist den Göttern vorbehalten. Petrarca verlässt gewissermassen den Kosmos, und als er auf dem Berg steht, ist er völlig überwältigt. Aber weil er auch ein schlechtes Gewissen hat, rennt er den Berg rasch wieder runter.

Caspar David Friedrichs «Der Wanderer über dem Nebelmeer», um 1818, die berühmteste Rückenfigur der Kunstgeschichte, wie sie in die unendlich scheinende Ferne blickt.
Caspar David Friedrichs «Der Wanderer über dem Nebelmeer», um 1818, die berühmteste Rückenfigur der Kunstgeschichte, wie sie in die unendlich scheinende Ferne blickt. bild: wikimedia

Was wollen Sie uns damit sagen?
Solange sich der Mensch der Natur ausgeliefert sieht, gibt es keine ästhetische Wahrnehmung von ihr. Die Vorstellung der Natur als etwas, das man geniessen kann, entsteht erst im späten 18. Jahrhundert.

Mehr noch, als Gegenbewegung zur Industrialisierung wird die Natur nun idealisiert. Im 19. Jahrhundert sind es die Wandervögel, in unserer Generation waren es die Hippies, und in der Schweizer Nationalhymne tritt Gott bekanntlich bis heute im Morgenrot daher. Warum ist dieser Naturbegriff überholt?
Natur ist nicht etwas, in das man am Sonntag mit einem Spaziergang hinausgeht, sie geniesst – und dann abends wieder nach Hause zurückkehrt. Dieser Begriff der Natur unterscheidet klar zwischen Mensch und Natur.

Was ist daran falsch?
Nehmen Sie das Mikrobiom, das sich beim Menschen vor allem auf der Haut und im Darm befindet. Da leben Trilliarden von Bakterien, Viren und Pilzen, die kleinste Moleküle bilden. Ohne diese Moleküle kann unser Körper nicht überleben. Daher stellt sich die Frage: Wo hört der Mensch auf, und wo fängt das Mikrobiom an? Die Natur wird daher ein Begriff, der auch den Menschen umfasst. Sie ist nicht mehr draussen, sondern sie ist in uns selbst.

3D-Abbildung von Darmbakterien.

3D-Abbildung von Darmbakterien.Bild: Shutterstock

Beeinflussen die Mikrobiome auch unseren Verstand?
Ja, mein geistiger Zustand ist abhängig von den Neurochemikalien, die ich habe, und diese Neurochemikalien werden von den Bakterien in meinem Bauch gemacht. Die Frage «Was bin ich?» ist so gesehen nicht mehr so leicht zu beantworten.

Heisst das, dass wir uns den selbstbestimmten Menschen, der sein Schicksal in der Hand hat, wieder abschminken müssen?
Das wäre zu kurz gesprungen. Es ist keine Entweder-oder-Geschichte. Wir wissen noch zu wenig darüber. Die Mikrobiome sind jedoch der Anlass, neu darüber nachzudenken, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Wenn ich etwas Dummes anstelle, kann ich somit künftig sagen: Das war gar nicht ich, das waren meine blöden Mikrobiome?
So einfach geht das nicht. Natürlich kann man den Menschen nicht auf die Mikrobiome reduzieren und sich so aus der Verantwortung stehlen. Wir haben vielmehr die Verantwortung, über uns und die Natur anders nachzudenken.

Was heisst das konkret?
Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers beschreibt in seinem Roman «Die Wurzeln des Lebens», wie Bäume miteinander kommunizieren. Er gibt uns damit auch ein neues Angebot, was es heisst, Mensch zu sein. Wir könnten also sagen: Die Neurochemikalien, mit denen sich Bäume unterhalten, sind – chemisch gesehen – äquivalent zu den Neurochemikalien, die wir auch im menschlichen Gehirn finden.

Was schliessen Sie daraus?
Dass wir die Vorstellung revidieren müssen, wonach Vernunft etwas ist, dass uns von der Natur abhebt. Wenn wir dies begreifen, dann fühlen wir uns auch ganz anders.

Wenn wir ein Gefühl für einen ganzheitlicheren Naturbegriff bekommen, der uns selbst mit einschliesst, eröffnet das neue Perspektiven, meint Professor Rees.

Wenn wir ein Gefühl für einen ganzheitlicheren Naturbegriff bekommen, der uns selbst mit einschliesst, eröffnet das neue Perspektiven, meint Professor Rees.Bild: Shutterstock

Sie heben nicht nur die Grenze zwischen Mensch und Natur auf, sondern auch die Grenze zwischen Natur und Technik. Als Beispiel führen Sie CRISPR an, eine Technik, mit der man die Gene verändern kann. Für die meisten Menschen ist gerade dies das Gegenteil von Natur, es ist eine unverantwortliche Vergewaltigung der Natur.
Wir befinden uns hier auf einem sehr schmalen Grat. Man kann CRISPR verstehen als die menschliche Kontrolle von Natur. CRISPR ist doch etwas, das Unternehmen wie Monsanto und Syngenta machen. Nicht nur. CRISPR bietet uns auch die Möglichkeit, anders zu denken.

Eine steile These. Weshalb?
CRISPR ist nicht in den Labors von Unternehmen wie Monsanto oder Syngenta erfunden worden, sondern von Bakterien, und zwar vor rund 3,5 Milliarden Jahren. Die Bakterien benutzten diese Technik, um Viren zu zerschneiden, und zwar so, dass sie sich nicht wieder zusammensetzen und das Bakterium töten konnten.

Ist Technik nicht etwas, das dem Menschen vorbehalten ist?
So dachten wir lange. Wenn Biber einen Damm bauen, dann ist das nicht Technik. Aber CRISPR ist eine Technik, und zwar eine, die nicht von Menschen, sondern von Bakterien erfunden wurde. Es ist eine Technik, die aus rein biologischen Prozessen besteht. Wir können uns daher eine Technik vorstellen, die rein natürlich ist. Damit entfällt auch die vermeintlich klare Trennlinie von Natur und Technik. Früher hat man Natur auf Technik reduziert. Was ist eine Zelle oder ein Organismus? Eigentlich eine Maschine. Dank CRISPR kann ich mir das auch andersrum vorstellen.

Nämlich wie?
Technik ist Biologie. Die Maschine wird zu einem Organismus.

Könnten wir also die bisherige Technik durch eine Technik ersetzen, die Biologie ist?
Das finde ich eine faszinierende Möglichkeit. Viele synthetische Biologen versuchen heute, genau das zu machen. Aber ja, es besteht auch die Gefahr, dass man versucht, mit CRISPR die Natur zu kontrollieren.

Die ewige Sorge bleibt: Was tut der Mensch mit neuen Möglichkeiten?

Die ewige Sorge bleibt: Was tut der Mensch mit neuen Möglichkeiten?bild: via pinterest

Derzeit ist die künstliche Intelligenz ein heisses Thema. Wie passt diese in Ihr Verständnis von Natur?
Ursprünglich wurde künstliche Intelligenz als symbolische Intelligenz verstanden. Anders gesagt, sie wurde der menschlichen Intelligenz nachempfunden, was wiederum bedeutet, dass wir Erfahrungen in Symbolen speichern. Wenn wir lernen, manipulieren wir diese Symbole.

Heute jedoch spricht man von «Machine Learning», das ganz anders funktioniert.
«Deep Learning» oder «Machine Learning» hat einen ganz anderen Ansatz. Intelligenz ist nicht Vernunft oder Symbole, sondern bedeutet, dass man lernen kann. Die Grundlage des Lernens sind die Neuronen. Nervensysteme gibt es in unheimlich verschiedenen Varianten. Deep Learning ist der Versuch, Nervensysteme zu bauen, die lernen können. Und sie tun es auch. Sie bauen ein System aufgrund von Erfahrungen, aber diese Erfahrungen sind ganz anders als beim Menschen.

Wie anders?
Wir Menschen denken in drei Dimensionen. Heutige Deep-Learning-Systeme haben 175 Milliarden Dimensionen. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn ein solches System lernt, beispielsweise ein Spiel wie Go zu spielen, dann hat es natürlich ein ganz anderes Modell von Go als ein Mensch, und es macht daher Spielzüge, die wir Menschen niemals machen würden.

Go ist ein Brettspiel für zwei Spieler und gilt als das komplexeste aller weltweit bekannten Strategiespiele, das ursprünglich aus dem antiken China stammt.

Go ist ein Brettspiel für zwei Spieler und gilt als das komplexeste aller weltweit bekannten Strategiespiele, das ursprünglich aus dem antiken China stammt.Bild: Shutterstock

Ist dies nicht ein bisschen gespenstisch?
Ich finde den Gewinn an Möglichkeiten toll. Eine Intelligenz, die logisch anders strukturiert ist als unsere, kann uns Angebote machen, anders zu denken.

Und wie passt dies in Ihren Naturbegriff?
Es ist ein Intelligenzbegriff, der von der Natur inspiriert ist. Es ist ein neuronales System. Ich bin überzeugt, dass es ein System ist, das uns hilft, die Natur besser zu verstehen.

Auch das widerspricht intuitiv vollkommen den gängigen Vorstellungen. Künstliche Intelligenz, das sind Roboter und Maschinen, also das Gegenteil von Natur.
Die meisten Ingenieure, die sich mit künstlicher Intelligenz befassen, bauen ja auch Maschinen und Roboter in der Absicht, die Effizienz zu erhöhen und Geld zu sparen. Man will damit die Automatisierung in Bereiche treiben, die bisher Menschen vorbehalten war. Wirtschaftlich mag dies Sinn machen, aber die künstliche Intelligenz macht uns auch Angebote, andere Sachen zu machen. Als ich noch an der ETH tätig war, habe ich versucht, diese Möglichkeiten aufzuzeigen. Später habe ich begonnen, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten.

Wie haben diese Unternehmen reagiert?
Anfänglich fanden sie es toll. Ich habe Ihnen sozusagen eine philosophische Würde verliehen – aber dann haben sie genau das getan, was sie vorher schon getan hatten. Daher sah ich mich gezwungen, meine eigene Firma zu gründen, die Transformation of the Human. Es ist ein Ort, wo wir versuchen, diese neuen Möglichkeiten auszuloten.

Haben Sie konkrete Beispiele?
Die Animation zu meinem Vortrag wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz zusammengestellt. Ich habe beispielsweise ein Bild eingefügt, und die künstliche Intelligenz hat darauf geantwortet und gesagt: Wenn du dieses Bild nimmst, dann denke ich an dies. Ich sage, okay, zeig mir mehr. Daraus ist ein kleiner Film entstanden. Mit anderen Worten: Ich kann mit der künstlichen Intelligenz interagieren und Sachen entdecken, die ich als Mensch nicht entdeckt hätte.

Haben Sie nicht Angst, dass die künstliche Intelligenz eines Tages schlauer ist als Sie und Sie der Sklave der künstlichen Intelligenz werden?
Das ist eine dumme Angst. Sie geht davon aus, dass die künstliche Intelligenz selbst etwas will. Das ist für mich nicht sehr plausibel. Warum sollte mein Handy plötzlich sagen: Hey, ich habe jetzt keine Lust mehr, dieses Gespräch aufzunehmen?

«Westworld» ist eine der vielen Science-Fiction-Serien, die zeigen, was Androiden mit ihrer plötzlich erwachten Empfindungsfähigkeit so alles anstellen.

«Westworld» ist eine der vielen Science-Fiction-Serien, die zeigen, was Androiden mit ihrer plötzlich erwachten Empfindungsfähigkeit so alles anstellen.bild: hbo

Auch diese Angst ist weit verbreitet und Thema in unzähligen Science-Fiction-Romanen.
Das kommt daher, dass wir in einer Welt leben, in der wir zunehmend dauernd kontrolliert werden. Deshalb müssen wir Wege finden, wie die Dinge anders sein könnten.

Daher müssen wir auch die Dreiteilung von Mensch, Natur, Technik überwinden?
Dieses neues Verständnis von Natur muss ein Projekt sein, für das wir uns verantwortlich fühlen. Das kann kein Mensch allein machen, es braucht viele dazu.

Kampf um eine humane Wissenschaft:

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