Album der Woche:
Kraftklub – »Kargo«
Eigentlich hätte sich die Band für ihr Comeback auch umbenennen können: Ein Klub ist das, was die fünf Musiker aus Chemnitz in den zwölf Jahren seit ihrer Gründung um sich herum aufgebaut haben, ohnehin schon längst nicht mehr, das zeigte sich nicht zuletzt am vergangenen Wochenende, als Sänger Felix Kummer zum Abschluss seines erfolgreichen Solo-Projekts die Berliner Freilichtbühne Wuhlheide mit 17.000 Fans ausverkaufte. Oder am Mittwoch, als die nach fünf Jahren reaktivierte Band ein Gratiskonzert zum Auftakt des Reeperbahn Festivals spielte und wegen des Andrangs fast die gesamte Hamburger Kiezmeile lahmlegte. Der Klub ist ein Festival geworden, eine Massenveranstaltung. Es gibt (außer den musikalisch und textlich brachialen Punks von Feine Sahne Fischfilet) keine andere dezidiert links orientierte deutschsprachige Rockband dieser Altersklasse, die über eine solche Wirkmacht und ungebrochene Wucht verfügt.
Das ist eine seltene Leistung, ein Kraftakt, um mal zum scherzhafterweise passenderen Bandnamen zu kommen. Und für diese Anstrengung, nicht bitter, zynisch oder saturiert geworden zu sein, sondern noch da zu sein, Perspektivlosigkeit und Apathie mit stürmischen, manchmal auch ungestümen Indierock-Hymnen zu kontern, dafür feiern sich Kraftklub auf ihrem vierten Album »Kargo« mit der ansteckenden Euphorie von Songs wie »Teil dieser Band« oder »Nur ein Song«. Allein dieses Doppel am Anfang enthält die Essenz der Band: mitreißende Energieschübe aus melodischem Adrenalinrock, Powerpop und Kummers in den Hip-Hop ausgreifenden Sprechgesang. Initiiert wurden sie im letzten großen Aufbäumen des Indie-Genres zu Beginn der Nullerjahre mit Gitarrenbands wie den Strokes, Franz Ferdinand oder The Killers, die in »Nur ein Song« ebenso als diverser Ur-Treibstoff für den Sound der Band genannt werden, wie Kate Nash, Lykke Li, Florence and the Machine und – allen voran – Rapper Mike Skinner alias The Streets.
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Zusätzlich bekräftigt Brummer/Kummer in »Teil dieser Band« mit der sympathischen Offenbarung eines ausgeprägten Hochstapler-Syndroms noch einmal vehement sein Bekenntnis zur Band und einer dauerhaft disparaten Rock’n’Roll-Existenz: »Ich hab' nix in der Hand, das irgendwas zählt/ Keinen Abschluss an einer geilen Universität/ Keine Business-Ideen, nur den Kopf voller Themen/ Aber nicht mal einen klitzekleinen halben Plan B.« Selbst »wenn’s das war, dann war es das wert«, singt der inzwischen 33-Jährige zwischenbilanzierend – und will weitermachen, bis jemand merkt, dass er gar nicht richtig singen kann und kein Instrument spielt. Das ist das in die Gegenwart des deutschen Indiepops übertragene Credo von Art Brut, einer der kurzzeitig tonangebenden jungen britischen Bands der Klasse von 2003: Look at them, they formed a band!
Kraftklub haben sich also vorerst entschieden, weiterhin Hymnen gegen Hass und Hoffnungslosigkeit zu singen, ihre Songs wollen nicht spalten, sondern ein Wir-Gefühl erzeugen, das sich nicht aus dem Prägungskanon und Lebenserfahrungen von artverwandten Boomer-Bands wie Die Ärzte oder Die Toten Hosen speist, sondern aus den Befindlichkeiten der Millennials. Das ist eine gute Nachricht für den Gitarrenrock per se – und ein nicht minder populäres oder gefühlsstarkes Gegengewicht zu dumpfen Rechtsrockbands, zumal im Osten der Republik.
Denn Kraftklub sind immer noch nicht nach Berlin gezogen, sondern beschreiben, nun älter geworden, auch den Zwiespalt, einer Stadt wie Chemnitz die Treue zu halten. In die neuen Songs hat sich eine erste Melancholie des Erwachsenwerdens eingenistet, das macht sie fast noch eindringlicher als frühe Gassenhauer wie »Ich will nicht nach Berlin« oder »Schüsse in die Luft«. »Wittenberg ist nicht Paris« hadert mit der Verspießerung bürgerlicher Hipster, beleuchtet dauerhafte Ost-West-Unterschiede und rechnet mit jungen Salonlinken und -grünen in den sicheren Bubbles der Großstadtkieze ab: »Nazis raus ruft es sich leichter, da, wo es keine Nazis gibt.« Auch mit der Nachhaltigkeit des eigenen Engagements in ihrer Heimatstadt setzen sich Kraftklub kritisch auseinander. In »Vierter September« rekapituliert die Band, was einen Tag nach ihrem spektakulären »Wir sind mehr«-Konzert gegen Rechts von 2018 passierte: nicht allzu viel. »Am 4. September fahren die Züge wieder regulär, und nichts hat sich verändert, die Innenstadt ist wieder leer«, singt Brummer und beschwört in »Angst« das Unbehagen der Spießbürger, dem Übel im Land in die hassverzerrte Fratze zu sehen. Aber resignieren will er ob der scheinbar ewig währenden Baseballschlägerjahre nicht: »Vielleicht sind wir nicht mehr, aber ich bin nicht allein!«
Der Kampf gegen die Verhältnisse und gegen die Verhärtungen geht weiter, auch wenn’s manchmal schwerfällt. Zwischendurch driftet die Band kurz ins Eskapistische, droht mit der Hinzunahme von Gästen ihr Zentrum zu verlieren. Dabei kommt dann pseudopolitischer Liebeskitsch wie »Kein Gott, kein Staat, nur Du« (mit Mia Morgan) heraus – oder das Mini-Roadmovie »Fahr mit mir (4x4)«, für das sich Kraftklub mit den inzwischen nach L.A. ausgewanderten Magdeburgern von Tokio Hotel ins DDR-Kultmobil Lada Niva quetschen und über den Abschied aus dem Osten sinnieren – oder ein Leben ohne »Regeln, Strafen und Gesetze, außer so zu leben, dass Franz Josef Wagner was dagegen hätte.« Mehr als ein Gimmick ist dieses PR-wirksame Ost-Ost-Duett nicht: Kraftklub waren und bleiben am besten da, wo sie sind und herkommen. Sie sind in ihrem Rockstarstatus angekommen, um zu bleiben. Um zu lärmen, zu wüten, zu trösten und manchmal auch schrecklich zu nerven. Wie gut, dass es sie gibt. (7.7)
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Kurz abgehört:
Kitty Solaris – »Girls & Music«
Und mal wieder bleibt die Welt kurz stehen, wenn Kitty Solaris ihre suggestive, aus mehreren Jahrzehnten Indierock, Disco und Elektronik gespeiste Popmusik spielt: »And the world stops turning«, singt die DIY-Musikerin Kirsten Hahn, Labelbetreiberin und Veranstaltungs-Muse des Berliner Schokoladens, mit tiefer Stimme im ersten Song ihres achten Albums. Keines davon klingt wie das andere, so warf Hahn den zuletzt für das hervorragende »Sunglasses« gefundenen Wave-Sound wieder über Bord – für ein nun wieder klassischeres, mal nach Air, mal nach Stranglers klingendes Elektro- und Dreampop-Ambiente, manchmal etwas zu gefällig ausgestattet von Produzent Damien Press. In einer kuscheligen Chillzone befindet sich die Songwriterin aber keineswegs. In ihren Texten betrauert sie unter anderem den zu frühen Tod eines Freundes, dessen Lebenssinn offenbar die titelgebenden Elemente »Girls & Music« waren. Frauen und Musik, das ist ohnehin kein Grund zum Jubeln, sieht man sich die deprimierenden Ergebnisse der jüngsten MaLisa-Studie zur Genderparität im deutschen Pop an. In der Bee-Gees-Zeitlupe »Disco Blues« oder im Gitarrennebel von »Mystery Girl« scheint Hahn sarkastisch über die marginale Stellung der musizierenden Frauen nachzudenken, es geht um Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, Kapitalismus und kolonialem Rassismus (»Kill The Beast«). Die düsteren Gedanken werden jedoch von der hellen, nie resignativen, sondern tröstlich pulsierenden Musik aufgefangen: Die Welt dreht sich ja doch immer weiter, vielleicht auch wieder zum Besseren. Kitty Solaris wird auch die »heimliche Indie-Queen« der Hauptstadt genannt. Warum eigentlich immer noch »heimlich«? (7.8)
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Makaya McCraven – »In These Times«
Was bedeuten schon Zuschreibungen wie »Jazz«, »Soul« oder »R&B«? In der wundersamen, sich ständig wandelnden Musik des Chicagoer Schlagzeugers und Beat-Alchemisten Makaya McCraven fusionieren Stile wie die von bis zu 20 Musiker:innen gelieferten Soli, Rhythmen, Samples und Loops, die er am Computer für elaborierte Studioaufnahmen arrangiert, um sie dann in furiosen, schwitzigen Live-Konzerten der Improvisation seiner Band zu überlassen. »In These Times«, über sieben Jahre hinweg kuratiert und komponiert, ist McCravens bisher ambitioniertestes Album, was sich nicht so leicht sagt, nachdem er die Jazz-Szene mit ausgetüftelten, irre swingenden Alben wie »In The Moment« (2015) und »Universal Beings« (2018) verblüffte und sich den Ruf eines Erneuerers und Grenzgängers eroberte. 2020 erfolgte sein Übertritt in die Welt des Pop mit seiner emphatischen Re-Imagination des Gil-Scott-Heron-Spätwerks »I’m New Here«. Man erwartet nun in McCravens »Dream Another« fast, dass sogleich die Brummelstimme des verstorbenen New Yorker Jazz-Soul-Poeten erklingen müsse, so seelenvoll und vintage nach »Winter in America« und Siebzigerjahren klingt das Stück. An anderer Stelle (»The Calling«) ruft McCraven Noir-Soundtracks, Morricone-Schwulst und Barjazz, wenn nicht Easy Listening auf, Trip- und Hip-Hop bildet ohnehin eher als traditioneller Jazz die DNA der Musik des 1983 geborenen Sohnes der ungarischen Sängerin und Flötistin Ágnes Zsigmondi und des afroamerikanischen Schlagzeugers Stephen McCraven. »So Ubuji« taucht in westafrikanische Klangwelten ab. In gefühlvoller Bewegung gehalten, in einen sanften, aber bezwingenden Strudel der Stile, Genres und Musikhistorie verwickelt, wird all das von McCravens flirrender, rastloser Perkussion und dem kompetenten, harmonisierenden Spiel von Musikern wie Jeff Parker (Gitarre), De'Sean Jones (Flöte), Brandee Younger (Harfe) oder Marta Sofia Honer (Violine). Dieser funky Drummer ist viel zu free, um sich von Jazz-Puristen verhaften zu lassen. (8.5)
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Dagobert – »Bonn Park«
Der Schweizer Chansonnier Lukas Jäger, also Dagobert, wäre längst Millionär, hätte die deutschsprachige Schlagerbranche sein grenzenloses Potential als Songwriter für sich entdeckt, Anschauungsmaterial gab es auf bisher vier Alben ja genug. Naja, was soll’s. Vielleicht will Jäger, übrigens ein echter, altmodischer Dandy, ja auch seine Seele nicht verkaufen, verstehen könnte man’s. Andererseits ist »Bonn Park« (der Titel hat nichts mit NRW oder alter BRD zu tun, sondern ist der Name eines mit ihm befreundeten Theaterregisseurs, der den Song »Kometenlied« schrieb) das reinste Bewerbungsschreiben für die Ariola-Welt von Silbereisen, Egli und Konsorten – ein weiteres, ganz und gar schamlos schwelgerisches, vielleicht auch hinterlistiges Dagobert-Album mit glitzernden, gefühligen Liedern über eine immer wieder dysfunktionale Beziehung. Angeblich sind die hier zusammengefassten Synthiepop-Schlager, Vollblut-Chansons und kosmischen Kunstlieder zur Seite gelegte Reste von den Aufnahmen des letzten Albums »Jäger« – aber fast alle gehören zu den griffigsten Hits, die Dagobert bisher veröffentlicht hat. »Reste«, das muss man sich mal vorstellen! Waren ihm wohl zu ranschmeißerisch, so wie die Beinahe-Bierzelt-Hymne »Ich will ne Frau, die mich will«, das Schunkelstück »Warum Wieso Weshalb«, die gar nicht so seifige Richard-Sanderson-Hommage »Bleib diesmal hier«, der komplett irre Gitarrengott-Fangesang »Uli Jon Roth« oder »Du fehlst mir«, das auch den Pet Shop Boys gefallen würde. Wenn, ja wenn, Dagobert das alles nicht der immer auch versnobbten Indie-Bubble vorbehalten würde. Irgendwann werden sie ihn entdecken da draußen. Oder er muss seine Lieder auf Französisch singen, die genussfreudigen Nachbarn im Süden nehmen es nicht so genau mit der Grenze zwischen Kitsch und Camp. (7.5)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).
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