Die vielleicht größte Überraschung des Abends ist die: Der Schauspieler Matthias Brandt kann brüllen. Er selbst hat öfter erzählt, dass ihm das nicht liegt. Als Brandt sich in jungen Jahren an der Schauspielschule in Hannover bewarb, wäre er beinahe nicht genommen worden, so seine Schilderung, weil er seinen Text aus dem Stück »Die Möwe« von Anton Tschechow viel zu leise sprach.
Am Freitagabend nun sieht und hört man ihn – nach etwa einer Stunde, die er ganz allein auf der Bühne des Berliner Ensembles zugebracht hat – aus offensichtlich tief empfundenem Schmerz geradezu urschreihaft losbrüllen. Was ihn so auf die Palme bringt? Es sind Liebesunglück und Wiederholungsekel, oder, wie er es ausdrückt, der eigene und fremde: »Lebenskitsch!«
»Mein Name sei Gantenbein« heißt der berühmte und von vielen Leserinnen und Lesern bis heute verehrte Roman des Schriftstellers Max Frisch aus dem Jahr 1964, den der viel geliebte Schauspieler Brandt in einer One-Man-Show in Berlin zum Bühnenleben zu erwecken versucht. Er tut es, trotz der Brüllszene, in der Regel leise und voller Eleganz. Mit einem warmherzigen Witz, der den Darsteller Brandt in vielen Filmen und Fernseharbeiten auszeichnet. Mit Mut zum manchmal slapstickhaften Körpereinsatz. Und, so jedenfalls scheinen es viele im Publikum zu empfinden, mit äußerst glaubwürdiger Text-Leidenschaft.
Ein Held, der verschiedene Identitäten ausprobiert
Frischs Roman ist ein moderner Klassiker der deutschsprachigen Literatur. Bis heute »großartig« nennt ihn der Frisch-Biograf und lange beim SPIEGEL beschäftigte Literaturkritiker Volker Weidermann, »beklemmend, intensiv, vertrackt und rätselhaft«. Das Buch handelt von einem Helden, der sich in verschiedene Männeridentitäten hineinversetzt. Unter anderem in die eines Kerls namens Gantenbein, der nach einem Autounfall der Welt im Allgemeinen und zwei Frauen im Besonderen vorgaukelt, er sei blind.
»Ich probiere Geschichten an wie Kleider«, lautet das Programm des Erzählers, und natürlich sagt diesen Satz auch Matthias Brandt, der auf der Bühne mit einem zusammenklappbaren Blindenstock und einer Blinden-Armbinde hantiert. Es geht im Buch und im Theater um die Kunst und das Elend, sich und anderen etwas vorzumachen.
Der Regisseur Oliver Reese, nebenbei Intendant des einst durch Brecht zu Weltruhm gelangten Berliner Ensembles, hat den Romantext mit Geschick gekürzt. Und er hat Brandt dazu überredet, nach 20 Jahren Theaterabstinenz wieder auf einer Bühne anzutreten. Ansonsten hält sich Reese vornehm und vielleicht auch ein bisschen entscheidungsschwach zurück. Das ist bei einem Stoff, der ja den Zwang zum Entscheiden beklagt, die »Zweifelhaftigkeit des Menschen« und die »Abwägung von Wirklichkeit und Möglichkeit«, wie es die Theaterdramaturgie formuliert, womöglich konsequent.
Darsteller Brandt in der Wabe: Sturz durch alle Spiegel
Foto: Matthias Horn / Berliner EnsembleDie Bühne ist ein Sechzigerjahre-Retrotraum. Der Bühnenbildner Hansjörg Hartung hat eine Rundecken-Wabe gebaut, die an die Kulissen der Fernsehserie »Raumschiff Orion« erinnert – und zugleich an ein quergelegtes iPhone. Ein Neonrahmen, der in unterschiedlichen Farben aufleuchtet und in kleineren Versionen im Bühnenhintergrund verdoppelt oder verdreifacht wird, versinnbildlicht jenen »Sturz durch alle Spiegel«, den sich der Bühnenheld herbeifantasiert.
Virtuos auf Sechzigerjahre-Nostalgie ist auch die Musik von Jörg Gollasch getrimmt, die mit sanftem Barjazz beginnt und später den Filmsoundtrack-Swing von Komödien nachahmt, in denen junge Frauen mit Kopftüchern in Cabrios am Mittelmeerstrand entlang düsen.
Brandt gibt den Mastroianni
Was tut der Schauspieler Brandt in diesem wunderbar gestylten Zeitreise-Setting? Er verwandelt sich erst mal in Marcello Mastroianni. Er legt sein Sakko und die drunter gepackte rote Reißverschluss-Trainingsjacke ab, schlüpft in Hemd, Krawatte, Anzugjackett – und setzt sich die Sonnenbrille auf die Nase, die ihn als vorgeblich Blinden ausweisen soll.
Er erzählt von seinen Patzern in der Blindenrolle, grapscht einen imaginären Hut vom Boden und wirft die Einzelteile eines zerlegten Blindenstabs in den Bühnengraben, was die Zuschauerinnen und Zuschauer besonders zum Lachen bringt. Er berichtet von der Prostituierten Camilla und von der Schauspielerin Lila, deren Zuneigung er als vermeintlich Sehunfähiger gewinnt. Und er präsentiert sich kurz mit einer Groucho-Marx-Brille und Schnurrbart als Clown.
Der Theatermonolog ist grundsätzlich eine Königsdisziplin für Schauspielerinnen und Schauspieler und ein Folterinstrument fürs Publikum. Matthias Brandt allerdings ist ein allzeit souveräner Entertainer. Wenn es um die Qualen der Eifersucht und die Freuden der sexuellen Untreue geht, von denen Frisch mit einer auch heute noch staunenswerten Eindringlichkeit erzählt, schlägt er sich mit der Faust auf Herz. Wenn der Weltjammer des Helden übermächtig wird, nimmt er sich mal ein gefülltes Whiskyglas und mal eine Weinflasche aus einer Minibar-Konsole, die in der Wand der Bühnen-Wabe versteckt sind. Er stürzt zu Boden und gibt den betrunkenen Liebeskümmerling. Er ekelt sich vor Worten, weil in Frischs Text das Gerede über die Oper verabscheut wird. Er liebkost die Worte, die ihn an dem Text begeistern. »Erinnerungen: Bodensatz der Erfahrung«, zum Beispiel.
Ein literarisches Herrengedeck
Bei aller Hingabe offenbart die Aufführung auch, dass Frischs Text aus einer anderen Zeit stammt. Einer Zeit, in der Männer heiter typisierend über »die Frauen« sprachen, in Momenten der emotionalen Aufwallung Whiskygläser an die Wand schmetterten, Hüte trugen.
So interessant die Kerle sind, mit deren Identitäten der Held jongliert, der Wissenschaftler Enderlin, der durch die Welt reisende Erfolgsmensch Svoboda, so uninteressant und schemenhaft bleiben ihre jeweiligen weiblichen Gegenüber. »Mein Name sei Gantenbein« ist, so wie es im Berliner Ensemble serviert wird, ein literarisches Herrengedeck. »Noch jede Frau, die er umarmt hatte, fühlte sich geliebt«, lautet einer der hier zitierten Sätze aus dem Buch. »Jede aber, die er wirklich zu lieben begann, sagte ihm früher oder später, dass er, wie alle Männer, von Liebe keine Ahnung habe.«
Der Jubel ist trotzdem groß am Ende. Der Schauspieler Brandt steht erschöpft im Rampenlicht und verneigt sich in weißem Unterhemd, grauer Hose mit Hosenträgern und schwarzen Schuhen. An seinen Handgelenken trägt er drei Uhren. Natürlich steht jede für eines der drei Männerleben, die er skizziert hat.
Und natürlich sind die nächsten Vorstellungen der Aufführung so gut wie ausverkauft. Berlin ist um eine Touristenattraktion reicher. Vermutlich könnte Mathias Brandt, wenn er durchhält, mit dieser Rolle die nächsten 20 Jahre auf dem Spielplan des Berliner Ensembles stehen.
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