Um die Leistung von Jude Bellingham im Spiel gegen Manchester City zu erfassen, beginnt man am besten mit Ansgar Knauff.
Knauff, 19 Jahre alter Offensivspieler, war am Dienstagabend im Viertelfinal-Hinspiel in der Champions League die Überraschung in der Startelf von Borussia Dortmund. Nie zuvor stand er in einem Pflichtspiel im Herrenbereich in der Startelf. Knauff arbeitete, ihm gelang manch Ballgewinn, aber er wirkte auch nervös, ihm versprangen Bälle. Was völlig normal war, Knauff geht schließlich seine ersten Schritte im Profifußball.
Jude Bellingham ist noch jünger als Knauff, er ist 17, in der Geschichte der Champions League war im Viertelfinale nur ein Startelfspieler jünger als er, Bojan Krkic, vor 13 Jahren beim FC Barcelona.
Ansgar Knauff ist ein Talent. Jude Bellingham eine Säule im BVB-Spiel.
Das erste Dortmunder Tor bei der 1:2-Niederlage erzielte er selbst, als er einem zu lang geratenen Pass hinterherhetzte, City-Torwart Ederson attackierte, den Ball eroberte und ins leere Tor schob. Doch der Treffer zählte nicht, der Schiedsrichter pfiff Foul, wohl zu Unrecht. Das zweite Dortmunder Tor, und diesmal zählte es, leitete Bellingham mit einer wunderbaren Aktion ein: Ballannahme mit links, eine Finte, dann ein Pass auf Erling Haaland, der Torschütze Marco Reus einsetzte.
Bellingham ließ aufblitzen, was er in der Bundesliga, wo die Gegner in 16 von 17 Fällen schwächer sind als City, viel häufiger zeigt: seine ausgezeichnete Technik; seine Fähigkeit, an Gegenspielern vorbeizudribbeln; und seinen Drang anzugreifen. Bellinghams erster Blick nach der Ballannahme richtet sich meist nach vorn, er sucht den Weg zum Tor, eine Art Brandbeschleuniger in der BVB-Offensive.
Beim 1:2 in Manchester waren aber meist andere Qualitäten gefragt. Manndeckung im Zentrum, das Absichern von pressenden Teamkollegen, und immer wieder weite, anstrengende Wege, um Druck auf den Ballführenden zu erzeugen. Eigentlich rannte er permanent von einer Position auf die andere, immer auf der Suche nach dem nächsten Zweikampf.
Man kann das als Drecksarbeit bezeichnen. Gerade, wenn der Gegner Manchester City heißt und die Laufwege repetitiv sind und ohne unmittelbaren Lohn. Denn gegen Pep-Guardiola-Mannschaften bringt das Anlaufen nur selten einen Ballgewinn ein, dafür sind sie zu eingespielt. Es geht darum, dem Gegner die Freude zu nehmen. Bellingham ist das gelungen.
In Bellingham hat der BVB einen Spieler gefunden, der Glanzmomente und Drecksarbeit vereint. Der in vielen Szenen so abgeklärt wirkt wie ein Spieler nach 300 Profieinsätzen. Es sind aber bloß 37.
Die Borussia habe sich im vergangenen Sommer beim Bellingham-Transfer gegen den FC Bayern und die beiden Klubs aus Manchester durchgesetzt und dabei auch mit dem Beispiel Jadon Sanchos argumentiert, schreibt das Sportportal »The Athletic«. Sancho, wie Bellingham Engländer, hatte der Klub zuvor aus der City-Jugend verpflichtet, er setzte sich schnell durch, wurde Nationalspieler.
Bellingham sei eigentlich erst für das Ende dieser Saison als Stammspieler bei den Profis vorgesehen, heißt es in dem Artikel. Bloß habe er die Erwartungen der BVB-Verantwortlichen übertroffen. Unlängst debütierte er für das Nationalteam der Three Lions. Trainer Gareth Southgate wird das Spiel gegen City nicht entgangen sein.
Nach dem Spiel sprachen die Dortmunder Führungsspieler beim Sportstreamingdienst DAZN. Ihre Aussagen ähnelten sich. »Wir müssen zeigen, dass das nicht nur auf der ganz großen Bühne möglich ist, sondern auch samstags in Frankfurt oder Stuttgart«, sagte Abwehrchef Mats Hummels. Kapitän Marco Reus sagte, sie redeten beim BVB »nicht erst seit einem Jahr davon, dass wir Kontinuität in unser Spiel kriegen müssen. Wir haben zu wenige Spiele wie heute, wo wir unser Niveau zeigen.«
Es schien, als meinten sie dasselbe: Die 90 Minuten gegen City hätten gezeigt, wozu der BVB in der Lage sei. Jetzt müsse bloß noch der Kopf mitspielen, dann gebe es weniger Niederlagen.
Ist das so?
Man könnte die jüngsten Resultate auch anders deuten: Dass Leistungen wie in Manchester nicht der Maßstab sind, sondern der Ausschlag nach oben, die genauso eingepreist werden müssen wie die Ergebnisse gegen Frankfurt (1:2) und in Köln (2:2).
Eine mögliche Erklärung dafür ist taktischer Natur. In beiden Bundesligapartien musste Dortmund eine aktivere Rolle in Ballbesitz übernehmen; gegen City fand das Team mehr Räume vor. Das scheint vielen Spielern, aber auch dem aktuellen Trainerteam um Edin Terzić entgegenzukommen.
Wer auf Talente setzt, muss mit Leistungsschwankungen leben
Eine weitere mögliche Erklärung: Wer wie Dortmund auf eine Mischung aus gestandenen Profis und vielen Talenten setzt, die entwickelt und mit großem Gewinn verkauft werden sollen, der muss damit leben, wenn deren Leistungen schwanken. Selbst bei Hochbegabten wie Bellingham.
Ansgar Knauff verlor in Hälfte eins den Stand und versäumte es darüber, einen Pass auf den ungedeckten Haaland zu spielen. Der eingewechselte Giovanni Reyna, 18, unterstützte vor dem Siegtreffer der Gastgeber die eigene Defensive nicht ausreichend. Selbst Bellingham unterliefen Fehler. Beim ersten Gegentreffer hätte er Torschütze Kevin de Bruyne wohl entscheidend stören können, hätte er die Situation richtig eingeschätzt. Doch er sprintete zu spät in Richtung des Belgiers. Wobei der entscheidende Fehler der Fehlpass von Emre Can war. Und der ist 27.
Fehlerfreie Auftritte auf Topniveau zu erwarten, täte der Dortmunder Mannschaft unrecht. Das gilt auch für die oft bemängelte Konstanz. Als wäre es normal, jedes Spiel zu gewinnen. Als wäre der BVB Bayern München.
Dortmund geht trotz des guten Auftritts als klarer Außenseiter ins Rückspiel kommende Woche. Wenn eine Leistung wie am Dienstag nicht zum Remis genügt, wird es schwer mit dem Weiterkommen. Dafür bräuchte es schließlich einen Sieg.
Wichtiger wäre für den BVB ohnehin eine erfolgreiche Aufholjagd in der Liga, wo Frankfurt als Vierter sieben Punkte vorn liegt. Das Verpassen der Champions League wäre ein Desaster für Dortmund, dem Klub würden viele Millionen Euro entgehen, und er verlöre zudem ein Pfand im Kampf um Talente: Einsatzzeiten in einer großen Liga und der Königsklasse.
Immerhin: Bellingham ist schon da. Und wenn der BVB künftig um Talente buhlt, kann er auf dieses Viertelfinale gegen Manchester City verweisen, in dem der Klub auf einen 17-Jährigen gesetzt hat und dabei gut aussah. Kein schlechtes Argument für einen Wechsel zur Borussia.
https://ift.tt/39OOYIS
Sport
Bagikan Berita Ini